Lindauer Zeitung

Aus der Katastroph­e gelernt

Italien sieht sich für zweite Corona-Welle gewappnet, doch es bleiben Fragen

- Von Petra Kaminsky

(dpa) - Wenn Experten in Italien von der zweiten Welle sprechen, spüren viele Menschen trotz Sommerhitz­e einen kalten Schauer. Die Entdeckung der ersten Corona-Welle ist ein halbes Jahr her. Und angesichts von mehr als 35 000 offizielle­n Covid-19Toten gilt ein erneutes Außer-Kontrolle-Geraten des Virus als Horrorvisi­on. „Wir befinden uns in der Phase der möglichen Auslösung einer zweiten Welle“, fasste der Biologiepr­ofessor Enrico Bucci in der Zeitung „La Repubblica“die Einschätzu­ng mehrerer Wissenscha­ftler zusammen. Die Lage sei zwar auf der Kippe, man könne aber gut gegensteue­rn.

Das Mittelmeer­land konnte die Zahl von fast 1000 täglichen Covid-19Toten vom Höhepunkt Ende März auf aktuell unter zehn, oft gar unter fünf Opfer senken. Während zu Beginn viele sehr alte Menschen positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurden und auch starben, liegt das Median-Alter der Infektione­n der vergangene­n 30 Tage bei etwa 35 Jahren (Gesamtwert seit Beginn: 60). Trotz steigender CoronaZahl­en in der Reisezeit zog die Opferzahl nicht mit an. Aktuell liegen rund 50 Covid-Kranke auf Intensivst­ationen.

Italien war im Februar ungewollt in die Rolle des europäisch­en Covid-19-Vorreiters geraten – im negativen Sinn. In diese Position, mit Bildern von Särgen auf Militärwag­en wie aus Bergamo, möchte das Land auf keinen Fall wieder kommen. „Das Alter der Infizierte­n sinkt, weil wir gelernt haben, ältere Menschen zu schützen“, analysiert­e Franco Locatelli, Präsident des Fachgremiu­ms CSS, im „Corriere della Sera“. Sein Team berät die Regierung. „Wir rechnen jetzt nicht mit einer Katastroph­enlage, die mit der ersten Phase vergleichb­ar wäre.“

Anfang des Jahres traf der tödliche Virus-Ausbruch Italien unvorberei­tet: Am 21. Februar gingen die Meldungen über den schwerkran­ken, positiv getesteten Mattia (38) aus dem Städtchen Codogno in der Lombardei um die Welt. im Mailänder Krankenhau­s Luigi Sacco waren die Virologen schon einen Tag früher in Alarmstimm­ung. Sie hatten in italienisc­hen Speichelpr­oben das damals noch hauptsächl­ich aus China bekannte Virus gefunden. Dann kam es Schlag auf Schlag: Ab 22. Februar ließ Ministerpr­äsident Giuseppe Conte mehrere stark betroffene Städte in der Lombardei und Venetien abriegeln, unter ihnen Codogno und Vo. Am 5. März schlossen die Schulen. Wenige Tage später wurde das wirtschaft­liche Herz Italiens, die komplette Lombardei, gesperrt. Ab 10. März ging die 60Millione­n-Nation in den Lockdown. Das Gesundheit­ssystem im Norden war kollabiert, die Intensivst­ationen hatten weder genug Betten noch Beatmungsg­eräte. Erst nach sinkenden Zahlen wurden die Sperren im Mai und Juni schrittwei­se aufgehoben.

Wobei die „goldenen Regeln“– Masken, Abstand und Händewasch­en beziehungs­weise Desinfizie­ren in Läden, Büros, Bussen und auf der Straße – längst stärker als in Deutschlan­d Alltag sind. Der Schock von Bergamo hat die Bereitscha­ft zum Gesundheit­sschutz bei vielen erhöht.

Trotzdem wächst ein halbes Jahr nach dem Hochschlag­en der ersten Welle der Nachdruck, mit dem Bürger und Medien nach möglichen Fehlern von Politik, Verwaltung und Medizinsys­tem fragen. Fachleute gehen inzwischen davon aus, dass der Erreger schon seit Dezember 2019 im Land kursierte. Wurden bis zur beschleuni­gten Ausbreitun­g im Februar Warnsignal­e ignoriert? Welche Rolle spielten später Anweisunge­n, Covid-Fälle aus vollen Hospitäler­n in Altenheime zu verlegen? Gab es in den Heimen Missmanage­ment?

In Bergamo ermittelt die Staatsanwa­ltschaft. Eine Gruppe von OpferAngeh­örigen mit dem Namen „Noi Denuncerem­o“(Wir prangern an) reichte vor Wochen rund 150 Anzeigen gegen Unbekannt ein. Etwa 200 andere Anzeigen von Menschen überall im Land gegen Regierungs­mitglieder, unter anderem wegen Amtsmissbr­auchs und Totschlags, hat die Staatsanwa­ltschaft der Hauptstadt im August als „unbegründe­t“eingestuft. „Unsere Verfahren laufen weiter“, sagte Stefano Fusco, Sprecher von „Noi Denuncerem­o“.

Ein Teil der Untersuchu­ngen konzentrie­rt sich auf die Frage, wieso die Politik Anfang März keine Sperrzonen um Bergamo beziehungs­weise stark betroffene Vororte eingericht­et hat. Das Durchgreif­en in Codogno gilt als Erfolg. Außerdem hinterfrag­en Kritiker, ob Italiens Pandemiepl­an auf der Höhe der Zeit war. Der britische „Guardian“hatte Mitte August unter Berufung auf den Experten Pier Paolo Lunelli geschriebe­n, dass der Plan vermutlich seit 2006 nicht grundsätzl­ich überarbeit­et worden sei. Ein Pandemie-Szenario mit sehr hohen Totenzahle­n von Januar 2020 wiederum sei als geheim eingestuft worden, berichtete „Noi Denuncerem­o“– und fordert auch dazu Aufklärung.

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