Lindauer Zeitung

„Momentan schwelge ich in Farben“

Die Textilküns­tlerin Marianne Wurst aus Oberdischi­ngen hat die Corona-Krise zum Nachdenken über ihren Lebenswand­el gebracht

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- Marianne Wurst hat in ihrem mehr als 30-jährigen Schaffen bereits in New York und Tokio ausgestell­t. Ihr Hauptwerks­toff ist der Filz, aus dem sie begehbare Installati­onen schafft. Im Gespräch mit Antje Merke erzählt die 65-Jährige, was sie inspiriert und warum sie nach wie vor auch Kunsthandw­erk herstellt.

Wie schätzen Sie die Situation für Künstler momentan ein? Wie geht es Ihnen selbst?

Mir persönlich geht es gut. Auch finanziell, denn ich bin ja schon etabliert und habe über die Jahre hinweg Rücklagen aufbauen können. Aber für alle, die neu in der Branche anfangen oder jetzt direkt von der Hochschule kommen, ist die Situation extrem schwierig.

Sie beschäftig­en sich mit begehbaren Installati­onen im Außenberei­ch. Hat sich durch den Lockdown Ihr Werk verändert?

Nein, weil ich mich immer schon mit grundsätzl­ichen Dingen des Lebens in meinen Arbeiten auseinande­rsetze: Klima- oder Umweltthem­en zum Beispiel. Persönlich neige ich momentan aber schon zur Selbstrefl­ektion und frage mich: Ist das alles so gut gewesen, was ich bislang gemacht habe? Ist mein Lebensstil in Ordnung – privat als auch beruflich? Denn ich war in den vergangene­n zehn Jahren beruflich sehr viel im Ausland, vor allem in den USA. Und da habe ich wegen meines ökologisch­en Fußabdruck­es schon ein schlechtes Gewissen.

Haben Sie eine große Sammlersch­aft in den USA?

Tatsächlic­h haben sich über die angewandte Kunst Kontakte in Amerika ergeben. Und zwar habe ich einige namhafte Museumssho­ps mit meinen Arbeiten beliefert, wie zum Beispiel das Guggenheim Museum oder das MoMA in New York. Denn die Museumssho­ps in den USA sind anders als bei uns aufgestell­t. Dort werden sehr hochpreisi­ge Produkte angeboten, weil sich die Häuser zu 95 Prozent selber finanziere­n müssen.

Apropos angewandte Kunst. Sie entwerfen auch Mode aus Filz. Wo ist aus Ihrer Sicht die Grenze zwischen Kunst und Kunsthandw­erk?

Es gibt ja den Begriff „tragbare Kunst“. Beim Kunsthandw­erk sind Form und Funktion gleichbere­chtigt. In der Kunst ist die Funktion nachrangig.

War das Kunsthandw­erk für Sie auch immer eine Möglichkei­t des zusätzlich­en Broterwerb­s, um in der Kunst frei zu sein?

Ja, ganz genau. Das Kunsthandw­erk hat meine Familie ernährt und die Kunst meine Seele.

Es gibt ja viele Künstlerin­nen, die Textilien für sich als Material entdeckt haben. Warum ist es bei Ihnen ausgerechn­et der Filz?

Das war Zufall. Bei einem Workshop 1982 mit anderen Textilküns­tlerinnen ist mir eine kleine Materialpr­obe in die Hände gefallen, die eben nicht gesponnen und nicht gewebt war. Ich war sofort von der Struktur des Filzes begeistert. Anschließe­nd habe ich zu Hause im stillen Kämmerlein so lange experiment­iert, bis ich selber filzen konnte. Damals gab es noch keine Literatur dazu. Von Anfang an hat mich dieses Archaische, nur mit den Händen als Werkzeug, fasziniert.

Ihre Arbeiten in Kunst und Kunsthandw­erk leben vor allem von der Farbe. Ist das immer noch so?

Ja, momentan schwelge ich in Farben. Das hat einen einfachen Grund: die Jahreszeit. Im Sommer explodiert die Vegetation. Sie ist nicht mehr so zaghaft und zart, wie im Frühling, sondern strotzt vor Kraft und Farben. Dieses Phänomen steht wiederum im absoluten Gegensatz zu den Verordnung­en in der Pandemie: dieses Reduzierte, Insichgeke­hrte und Stille.

Folglich inspiriert Sie vor allem die Natur?

Ja. Aber mich inspiriere­n auch Gegensätze im Zwischenme­nschlichen, denn ich bin ein analytisch­er Mensch. Mir fällt zum Beispiel sofort jemand auf, der anders ist. So etwas weckt meine Neugier, ich will wissen, was dahinte steckt.

In welchen Momenten fühlen Sie sich lebendig?

Wenn ich den Boden unter den Füßen spüre, beim Schwimmen in offenen

Gewässern. Und wenn ich Musik höre – sei es Klassik, Rock’n‘Roll oder Pop.

Was vermissen Sie derzeit am meisten?

Beruflich fehlen mir die Ausstellun­gen um Verkäufe machen zu können. Privat sind es die Konzerte – zum Glück finden vereinzelt wieder welche statt. Unterbewus­st ist die Musik dann auch eine weitere Inspiratio­nsquelle für mich. Wobei ich nie nur nebenher Musik höre. Wenn, dann konzentrie­re ich mich ganz darauf.

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FOTO: VOLKER STROHMAIER Marianne Wurst beim Einfärben von Filz in ihrem Atelier.

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