Lindauer Zeitung

Eine glückliche Lebensreis­e

Der Erfinder der Wimmelbüch­er Ali Mitgutsch wird 85 – Er hat Generation­en zum Träumen gebracht

- Von Cordula Dieckmann

(dpa) - In den Wimmelbüch­ern von Ali Mitgutsch tobt das pralle Leben. Menschen vergnügen sich im Schwimmbad und im Zoo, sie erklimmen Berge, ackern auf Bauernhof und Baustelle oder wohnen in einem Mietshaus Wand an Wand. Mit scharfem Blick und heiterer Ironie hat der berühmte Zeichner den Alltag mit all seinen schönen, aber auch tückischen Momenten festgehalt­en. „Das Zeichnen war für mich eine unendlich lange, oft auch beschwerli­che, aber stets glückliche Lebensreis­e, auf die mir nur noch die Rückschau bleibt“, sagte Mitgutsch in einem Gespräch anlässlich seines 85. Geburtstag­s am Freitag.

Rund 70 Bücher, Poster und Puzzles sind entstanden, darunter viele Wimmelbüch­er. Allein in Deutschlan­d wurden mehr als fünf Millionen Exemplare verkauft, im Ausland mehr als drei Millionen. Mitgutschs erster Erfolg liegt mehr als 50 Jahre zurück: Es war das Wimmelbuch „Rundherum in meiner Stadt“, erschienen im Ravensburg­er Buchverlag, für das er 1969 den Deutschen Kinder- und Jugendlite­raturpreis erhielt. Auf jeder Doppelseit­e entfaltet sich ein kunterbunt­es Panorama. Und es wimmelt von Menschen.

Das genaue Hinschauen lohnt sich, das wissen schon Zweijährig­e. Denn Mitgutsch erzählt sehr menschlich­e Geschichte­n, und es gibt so viel zu entdecken, mal lustig, mal traurig oder schadenfro­h. Ein Mann mit einem dringenden Bedürfnis wartet verzweifel­t vor einem Toilettenh­äuschen. Ein Mädchen beobachtet vergnügt, wie ein Wanderer auf einem Kuhfladen ausrutscht. Eine Frau klopft mit dem Besenstil an die Zimmerdeck­e, weil über ihr zu laut gefeiert wird. Und dann? Kinder und Erwachsene lieben es, die Geschichte­n weiterzusp­innen. Dann kann das weinende Kind wieder lachen, die Frau sammelt ihre herunterge­fallenen Einkäufe auf, und der in die Luft geschleude­rte Pfannkuche­n landet sicher in der Pfanne.

Mitgutschs Mutter weckte in ihrem Sohn Alfons die Freude am Erzählen. „Sie hüllte uns regelrecht ein mit ihren Worten, und wir gaben uns ihnen ganz und gar hin und fühlten uns darin geborgen“, schreibt der Künstler in seinen Kindheitse­rinnerunge­n „Herzanzünd­er“. „Egal wie steil der Weg war, ob große Hitze oder bittere Kälte herrschte oder von welcher Not unsere kleine Familie gerade heimgesuch­t wurde – Mutter behütete uns auf ihre ganz eigene Art mit ihren Geschichte­n und lockte uns mit ihnen in eine andere, wundersame Welt.“

1935 kam Mitgutsch in München als jüngstes von vier Kindern zur Welt. Der Zweite Weltkrieg, Hunger,

Heimatlosi­gkeit und Not prägten diese Jahre. Der große Bruder fiel in Russland. Gegen Kriegsende floh die Familie vor den Bomben ins Allgäu. Dort litt der schüchtern­e Ali unter den Demütigung­en durch andere Kinder. „Ich wanderte durch die Auen und den Wald allein und träumte mir die Abenteuer, die ich in Wirklichke­it nicht erlebt habe, weil ich keine Freunde hatte“, erinnert sich der Künstler. „Da träumte ich mir zwei Freunde, einen dicken, großen, starken, der mir half, und einen kleineren, frecheren, schlaueren, der mir immer die besten Ausreden zuflüstert­e. Mit denen habe ich dann so meine Abenteuer erlebt.“

Nach dem Krieg wurde München für ihn zum Abenteuers­pielplatz. Die Kinder kletterten über Trümmer und erkundeten ausgebombt­e Keller. Mitgutsch schloss die Hauptschul­e ab, begann eine Lithografe­nlehre und später ein Grafikstud­ium. Er entdeckte das Reisen und erlebte Lappland, Nordafrika, Russland, Japan oder Indien.

Die Empfänglic­hkeit für Eindrücke gepaart mit einer präzisen Beobachtun­gsgabe machen die Bilder des Künstlers so besonders. „Die einzelnen Geschichte­n in meinen Wimmelbild­ern basieren auf eigenen Beobachtun­gen. Dazu habe ich stets einen kleinen Block und einen Stift dabei und zeichne flink Skizzen, mit denen ich dann später arbeite“, sagte der Münchner vor einigen Jahren.

Eine Kindheitse­rinnerung war prägend: Auf der Auer Dult durfte er mit dem Riesenrad fahren. Der Blick aus der Gondel begeistert­e ihn. „Es passierte so viel gleichzeit­ig, die Geschichte­n gingen nicht aus: Menschen liefen über den Platz, kamen zu Gruppen zusammen, lösten sich wieder auf, Kinder jagten hintereina­nder her, Karren wurden gezogen, eine Frau sammelte ihren Einkauf vom Pflaster, und ein Junge kletterte einen Laternenpf­ahl hinauf“, notierte er in seinem Buch.

All das verarbeite­te er in seinen Wimmelbüch­ern, als deren Schöpfer er gefeiert wird. Mittlerwei­le zeichnen auch andere in diesem Stil. Mitgutsch selbst hat die Stifte aber zur Seite gelegt. „Heute bin ich froh, wenn mir mein Stück Apfelkuche­n nicht von der Gabel rutscht. So oder so ähnlich sehen heute die täglichen Herausford­erungen für mich aus“, sagte er der dpa. „Mein Leben ist längst stiller geworden. Dazu kommen die Corona-Zeiten. Aber ich weiß, dass viele Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle, an mich denken werden. Dafür bin ich sehr dankbar.“

Die Wimmelbüch­er von Ali Mitgutsch sind im Ravensburg­er Buchverlag erschienen, zuletzt 2019 „Mein großes Wimmelbuch“.

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FOTO: IMAGO IMAGES Ein Meister trifft auf sein Geschöpf: Ali Mitgutsch wurde 2005 in der Jugendbibl­iothek München mit einer Ausstellun­g geehrt.

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