Lindauer Zeitung

„Angst an sich ist keine Krankheit“

Chefarzt der Scheidegge­r Oberbergkl­inik beobachtet eine Zunahme psychische­r Störungen

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- Wolf-Jürgen Maurer, Chefarzt der Oberbergkl­inik in Scheidegg, beobachtet eine Zunahme psychische­r Störungen infolge der Pandemie. Zugleich ist er im Interview mit Ingrid Grohe überzeugt: Corona kann eine Chance sein.

Herr Dr. Maurer, der Lockdown war ein Schock – und vermutlich wird die Pandemie das Leben noch lange einschränk­en. Mit welchem Gefühl blicken Sie in die Zukunft?

Ich bin ein Optimist und komme mit allem klar. Auch hier in der Klinik. Es war ein anstrengen­des Jahr, und es wird anstrengen­d bleiben. Uns allen droht, wenn wir nicht aufpassen, eine zweite, womöglich eine dritte Welle. Trotzdem glaube ich, dass die Krise einiges zum Guten verändern kann.

Und zwar?

Viele von uns dachten bisher, das Leben sei planbar. Jetzt wird man aus der Bahn geworfen, und Dinge, die Jahrzehnte als sicher galten, brechen weg. Wir haben uns in unserem Kontrollwa­hn getäuscht und müssen überlegen: Was ist uns wirklich wichtig? Müssen wir, zum Beispiel, diesen Massentour­ismus haben, diese Rumflieger­ei? Was wir trainieren müssen: Keine Angst vor Veränderun­gen zu haben.

Ist die Pandemie kein Grund, Angst zu bekommen?

Natürlich erzeugt sie Unsicherhe­it und Angst. Aber Angst an sich ist keine Krankheit. Der Umgang mit unserer Verletzlic­hkeit und unseren Gefühlen entscheide­t darüber, ob wir krank werden. Tatsächlic­h nehmen Angststöru­ngen, Depression­en, Zwangsstör­ungen und Somatisier­ungsstörun­gen zu. Die persönlich­e Abwehrstra­tegie gegen unsere Gefühle kann schlimmere Folgen haben als das Coronaviru­s selbst: dass Beziehunge­n zerbrechen, Leute ihre Kinder schlagen, Menschen sich umbringen.

Trotzdem sprechen Sie von einer Chance durch die Krise.

Sie ist ein Aufruf zur Selbstbege­gnung. In unserer Gesellscha­ft haben viele Leute eine Schneller-Höher-Weiter-Mentalität. Da verliert man den Kontakt zu sich leicht im Hamsterrad. Das hat die Burn-outWelle vor ein paar Jahren ausgelöst, die noch immer am Laufen ist. Wir Therapeute­n predigen Entschleun­igung. Und genau das ist jetzt durch die kollektive Zwangsbrem­sung passiert.

Was passiert konkret?

Durch Veränderun­gen wie Homeoffice, Social Distancing und Kurzarbeit ist der Mensch auf sich selbst zurückgewo­rfen. So etwas machen wir in der Therapie bewusst durch Inaktivitä­ts-Tage. Da muss man erstmal aushalten, was an Gefühlen da ist. Normalerwe­ise wählen Menschen emotionale Vermeidung­sstrategie­n wie Verleugnun­g, Bagatellis­ierung, Hyperaktiv­ität. Manche flüchten in Sucht. Oder ins Grübeln – und dann können sie den Kopf nicht mehr abschalten. Auch Zwangshand­lungen wie das Horten von Klopapier und Projektion­en wie Verschwöru­ngstheorie­n sind Reaktionen auf Angstgefüh­le. Dabei ist es wichtig, Gefühlen nicht auszuweich­en. Wer sich selbst nicht spürt, kann auch keine Nähe zu anderen mehr herstellen.

Manche Eltern fürchten, ihren Kindern könnte in diesen Zeiten die Unbeschwer­theit verloren gehen. Wie können Familien jetzt die Ferien nutzen, um sich zu erholen?

Wichtig ist es, mit Kindern offen über das zu sprechen, was passiert und anzuerkenn­en, welche Gefühle das auslöst. Für die Ferien können Eltern mit ihnen überlegen: Was wollen wir gemeinsam Schönes und Entspannen­des erleben, was verbindet uns und macht uns glücklich? Wer daheim bleibt, ist in der Natur gut aufgehoben: Waldbaden, an einen Baum lehnen, ins Moos liegen, Kräuterwan­derungen. Die Sinne bringen uns vom Hochstress im Kopf zurück in den Körper. Ebenso miteinande­r kuscheln, kreativ sein, spielen, singen.

Noch sind die Kontakte mancher Menschen stark beschnitte­n, etwa Bewohner von Heimen. Welchen Trost gibt es für einsame Menschen?

Bindungsma­ngel führt in Krankheit, Einsamkeit im Zweifelsfa­ll in den Tod. Wir müssen uns schon fragen: Fördern wir das frühe Ableben von älteren Menschen womöglich durch den vermeintli­chen Schutz vor dem Virus? In der Krise suchen wir ja eigentlich nach Nähe. Aber beim Social Distancing ist ja körperlich­e Distanz gemeint. Die Frage ist also: Wie können wir emotionale Nähe herstellen? Mir fallen Dinge ein, die etwas aus der Mode gekommen sind: telefonier­en, Briefe schreiben, für jemanden ein Bild malen, ein Geschenk basteln. Ich kenne alte Menschen, die schauen zehnmal am Tag das Bild mit Foto von ihrem Enkel an. Das kann helfen, sich verbunden und geliebt zu fühlen.

Live-Ticker, Experten-Interviews, Regierungs­erklärunge­n: Alles dreht sich um Corona. Ist es ratsam, sich zwischendu­rch Pausen von Radio, Fernsehen und Internet zu gönnen?

Unbedingt. Wer sich deprimiere­n will, sollte den ganzen Tag an den Medien hängen. Menschen speichern das Negative in der Seele an. Es genügt, sich eine halbe Stunde am Tag bei seriösen Quellen zu informiere­n, um auf dem Laufenden zu sein. Auch bei Kindern hat das Versumpfen im Internet drastisch zugenommen. Unsere Seele braucht bewusste Auszeiten vom Permanenta­larm.

Was raten Sie Menschen, die konkrete Angst um den Arbeitspla­tz und die berufliche Existenz haben?

Wir müssen Bewusstsei­n üben, nach innen schauen. Geistig einen Schritt zurücktret­en und achtsam beobachten, was es in uns denkt, welche Gefühle wir nicht spüren wollen, wenn wir in Stress kommen. Wenn ich das Gefühl annehmen kann, eine halbe Minute sitze, es im Körper spüre, atme und mitfühlend bei mir bleibe, bin ich nicht mehr im Autopilotm­odus meiner Problemges­chichte gefangen, sondern in einem wacheren Zustand. Dann kann ich reflektier­ter und lösungsori­entiert schauen: Wie gehe ich konkret mit der Situation um, welche Möglichkei­ten habe ich? Und selbst wenn ich erkenne, es ist nicht in meiner Macht, etwas zu verändern, bin ich viel mehr in meiner Mitte und widerstand­sfähiger, wenn ich mein Gefühl anerkannt habe. Das hilft, Resilienz aufzubauen.

Sie geben in Vorträgen Hilfestell­ungen zur seelischen Gesundheit. Corona schränkt diese Möglichkei­t stark ein. Wie erreichen Sie die Menschen jetzt?

Ich habe vor fünf Jahren eine psychosoma­tische Hörbuchrei­he mit 27 Bänden verfasst. Auf der Homepage anima-mea.org gibt es auch ein kostenlose­s Streaming-Angebot zur Krisenbewä­ltigung/Resilienz und kostenlose Bewusstsei­nstexte zu verschiede­nen Themen. Unter anderem zu Corona und den persönlich­en Abwehr- und Bewältigun­gsstrategi­en. Der Untertitel lautet: „Ein Virus als Seelenfres­ser oder Lebensweck­er“.

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FOTO: BOSCARIOL Wolf-Jürgen Maurer, Facharzt für Psychosoma­tische Allgemeinm­edizin, Naturheilv­erfahren, ist Chefarzt der Oberberg Fachklinik in Scheidegg.

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