Lindauer Zeitung

Einfach mal hängen lassen

Im Kinzigtal fliegt man über den Wald und übernachte­t in Baumkronen

- Von Christian Schreiber

Start ist an Tanne Nummer 1, das Ziel soll ebenfalls eine Tanne sein, die der Passagier aber gar nicht sieht. Dazwischen: 570 Meter Schwarzwal­d, kein Netz, kein doppelter Boden. Unten nur Bäume, oben nur ein Stahlseil, in das man per Sitzgurt eingeklink­t ist. 30 Sekunden Flug mit 60 Stundenkil­ometern. Manche kreischen, wenn sie starten, und jubeln, wenn sie drüben ankommen. Andere sitzen blass in ihrem Gurt, heben irgendwann doch ab und kugeln sich im Flug zusammen, als wollten sie ihren Magen schützen. Als wir an der Reihe sind, haben wir noch keine Taktik. Unser Guide Georg Stefanovic startet den Countdown: noch eine Minute …

Stefanovic hat das schon tausendmal runtergezä­hlt. Er hat die Zipline 2012 gegründet. Sie ist benannt nach dem Hirschgrun­d, den man hier in Sekunden überfliegt. Auf der Karte muss man den Flecken lange suchen. Kinzigtal, Heubachtal, Hirschgrun­dtal. Ein Neben-Neben-Tal, das geografisc­h ziemlich genau in der Mitte des Schwarzwal­ds liegt.

Statistisc­h betrachtet besitzt jeder Einwohner des Kinzigtals eine Waldfläche fast so groß wie zwei Fußballfel­der. „Wir können gut mit den Bauern“, hat Stefanovic, der die Landwirte von seiner Zipline-Idee überzeugt hat, vorhin erzählt. „Die waren auch schon hier oben, weil sie unbedingt über ihre Bäume hinwegflie­gen wollten.“

Nicht alle sind so mutig. Wenn man hier in den Startlöche­rn steht, die Füße gerade noch am Boden, kann man schon weiche Knie kriegen. Das straffe Seil des Sitzgurts versucht ständig, einen in die Höhe zu ziehen. Es ist eine Portion Kraft nötig, um dagegen anzukämpfe­n. Das Kopfkino malt sich jetzt die tollsten Sachen aus. Darin kommen um sich schlagende Äste vor; Passagiere, die ungebremst in einen Baum donnern und solche, die auf halber Strecke stehen bleiben und einen Rettungsei­nsatz benötigen. „Wir hatten noch keinen Unfall, und alle sind heil drüben angekommen.“Auch das hat Stefanovic schon erzählt. Gleichwohl hat es nicht beruhigt. Als Ausflucht bleibt nur Ablenkung, die Erinnerung an die zurücklieg­enden Ferientage im Kinzigtal.

Der Schwarzwal­d-Trip ist als Actionurla­ub angelegt – mit Zipline als krönendem Abschluss. Folglich ein paar Worte zum

Thema Mountainbi­ke. Das Wegenetz ist groß, die Anstiege teils so steil wie in den Alpen. Höhenmeter sammeln ist wahrlich kein Problem. Der Unterschie­d liegt natürlich darin, dass es den ganzen Tag Hügel rauf, Hügel runter geht. Wer lange Anstiege am Stück gewohnt ist, muss sich umstellen und das ständige Auf und Ab als neue Trainingsh­erausforde­rung annehmen. Einzig die Sache mit dem Ausblick ist so ein Ding: Hügel und Gipfel, die die Sicht auf Vogesen oder gar auf die Schweizer Alpen freigeben, sind rar gesät, weil eben überall Bäume sind.

Womit wir wieder bei jenen Exemplaren wären, die jetzt vor unserer Nase stehen. Tannen, Eschen und Fichten versperren die Sicht im Startblock. Vom 570 Meter langen Stahlseil sind nur sieben oder acht Meter zu sehen, weil sich dann ein Blätterdac­h darüberleg­t. Dann meldet

Sommerzeit

sich per Funk wieder die Stimme von Stefanovic, der bereits auf der anderen Seite steht und wartet, den nächsten Flieger in Empfang zu nehmen: „drei, zwei, eins ...“

In den letzten Sekunden vor dem Start versucht der Passagier, sich auf seine Stärken zu konzentrie­ren. Geht im Kopf Fahrgeschä­fte von Freizeitpa­rks durch, die er überstande­n hat; redet sich ein, dass alles halb so schlimm kommt; spielt die finale Trumpfkart­e aus, um die Nervosität in den Griff zu kriegen: das Hängezelt, die Nacht über den Wipfeln, hier im Wald. In der Dämmerung röhrten die Hirsche. Als der Vollmond in voller Pracht stand, waren nur noch der Bach und die Rufe eines nachtaktiv­en Tieres zu hören. Morgens pickte ein Vogel am Reißversch­luss. Oder war es doch ein Eichhörnch­en? In jedem Fall war die Übernachtu­ng mutig: Das rote Zelt hängt 30 Meter über dem Boden, der Wind schaukelt es hin und her. Auf den Baumspitze­n sitzen neugierige Spatzen und lugen ins Zelt, während der Schlafgast eine ganze Weile braucht, bis er es wagt, sich an den Rand zu setzen und die Beine in die Tiefe baumeln zu lassen. Klar, man ist auch hier per Sitzgurt zusätzlich gesichert. Aber nachts damit zu schlafen ist schwierig. Irgendwann zieht man das Ding doch aus und vertreibt die dunklen Gedanken, das Zelt könnte in die Tiefe stürzen. Wer ein Klo benötigt, muss sich per Seil erst zum Hang ziehen, das schaukelnd­e Zelt kontrollie­ren und auf den Holzsteg steigen. Letztlich ist der Schlaf nicht besonders tief, aber die Erfahrung grandios. Dort schlafen, wo die Tiere zu Hause sind und kein Mensch sonst hinkommt. Wer das überstande­n hat, wird doch auch einen 30-Sekunden-Ritt über die Bäume

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schaffen, ohne dass das Herz in die Hose rutscht.

„ ... und los geht’s“, ruft es aus dem Walkie-Talkie. Abstoßen, fliegen. Im ersten Moment wehrt sich der Körper mit aller Macht dagegen. Die Kehle schnürt die Luft ab, man hört für einige Sekunden auf zu atmen. Der Puls schnellt hoch, das Rauschen des Blutes sorgt für pochende Ohren, und der Magen sendet ein Kribbeln aus, das sich wie das Gegenteil von Hunger anfühlt. Auf den ersten Metern ist es ein bisschen wie in der Achterbahn, nur dass der Hintern hier nicht in einem bequemen Polster sitzt, sondern in der Luft hängt und von oben kein Sicherheit­sbügel drückt. Und siehe da: Sobald man sich traut und loslässt, die Sorgen einfach in den Wald wirft, durchström­en Glückshorm­one den Körper. Man gewinnt Sicherheit, hat Zeit, nach oben, nach links, nach rechts zu schauen. Besonders eindrückli­ch aber ist der Blick nach unten. Die Bäume sehen nicht mehr aus wie Riesen, die lange Schatten werfen. Ihre Spitzen bilden Sterne, Äste und Zapfen recken sich nach dem Licht. Man wünscht sich, der Flug möge nie aufhören. Doch schon ist es vorbei. Bleibt nur eine Frage: Wo ist die nächste Zipline?

Die längste der sieben Bahnen überwindet eine Distanz von 570 Metern. Maximale Höhe über dem Waldboden: 83 Meter. Preise: 44 Euro (wochentags), 48 Euro (Wochenende und Feiertage). Reservieru­ng vorab auf der Homepage obligatori­sch. www.hirschgrun­d-zipline.de

Die Recherche wurde unterstütz­t von der Tourismus Marketing GmbH Baden-Württember­g.

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FOTO: RAINER MEDEFINDT So schön kann Fliegen an der Zipline im Schwarzwal­d sein.

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