Zeitreise in der Gegenwart
Christopher Nolans „Tenet“ist ein Spionagefilm mit einem Schuss Quantenphysik – Ob er das Kino retten kann?
Er wurde lange erwartet: Christopher Nolans „Tenet“ist der erste US-Blockbuster nach Beginn der Pandemie. Ein so klassisch-eleganter wie komplexer Agententhriller zwischen Spionage und Quantenphysik. Die Welt wird in „Tenet“gerettet. Auch das Kino?
„Versuch nicht, es zu verstehen. Fühle es!“Schon relativ zu Beginn legt Christopher Nolan diese Worte einer Wissenschaftlerin in den Mund, die der Hauptfigur das Weltprinzip dieses Films erklärt. Damit legt der Regisseur auch seine eigenen Karten auf den Tisch. Denn keineswegs ist Nolan ein Irrationalist des Kinos. Im Gegenteil wirft man ihm immer wieder Kälte und allzu geschmeidige Konstruktionen vor.
Nolans Geschichten und manche Szenen mögen retrospektiv nicht völlig stimmig sein, im Augenblick des Kinoerlebnisses funktionieren sie um so besser. Nolan ist ein Kino-Zauberkünstler, der den Blick und das Gefühl des Publikums sicher steuert. Jederzeit glauben die Zuschauer zu verstehen, was passiert. So auch in „Tenet“.
Es gibt großartige, wunderschöne Bilder in diesem erstaunlichen Film. Zum Beispiel, wenn ein Mann hier gegen sich selbst kämpft. Das hat neben der visuellen eine symbolische Kraft, wie eine Heldenepisode aus der antiken Mythologie. Das Staunen der Figur über diesen Moment trifft sich mit dem Staunen von uns Zuschauern.
Wir können nicht wirklich verstehen, was hier geschieht, dafür ist alles zu kompliziert, zu schnell geschnitten, zu rasant erzählt, aber auch zu gewagt in seinen Voraussetzungen. Wir müssen es fühlen, hinnehmen. Wir müssen akzeptieren, dass Christopher Nolan wie ein Gott die Gesetze der Physik, der Natur und selbst die Gesetze der anderen Götter außer Kraft setzt. Das ist so schön, wie beängstigend.
Alles beginnt mit einem Terroranschlag. Man lernt eine Hauptfigur kennen, ein CIA-Spion, etwa Mitte 30, (gespielt von John David Washington, dem Sohn von Denzel). Er handelt human, ist opferbereit. Bald darauf bekommt er einen Auftrag, den ihm seine Chefs auch nicht wirklich erklären können. Erst allmählich, von Station zu Station, kristallisieren sich einige Konturen heraus: In irgendeinem gut versteckten Archiv lagern „die Trümmer eines kommenden Krieges“, und es gibt eine Technik der „Inversion“, die als „rückwärts laufende Entropie“beschrieben wird, und Zeitreisen möglich macht. Aber all das ist nicht so wichtig; wesentlich ist an Christopher Nolans neuem Film „Tenet“nicht die eigentliche Geschichte.
Wesentlich sind die Bilder und der Weltentwurf. Das ist großes Spektakel: Ein Jumbo, der in ein Haus hineinrollt, Verfolgungsjagden über Zeitmauern, Schiffe, die rückwärtsfahren, Vögel, die rückwärtsfliegen, immer wieder diese widernatürlichen, unmöglichen Rückwärtsbewegungen. Zugleich kann man, wenn man ganz genau hinschaut, bemerken, dass nur bestimmte Figuren und Objekte sich rückwärts bewegen, alles Mögliche sich aber gleichzeitig vorwärts bewegt. Es gibt also eine Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Bewegungen.
Das exakt ist die Struktur von „Tenet“. Wenn man auf diesen Titel achtet und zugleich vergisst, dass es sich um das englische Wort für „Grundsatz“und „Theorem“handelt, kann einem auffallen, dass dies ein Palindrom ist, also ein Wort, das sich von hinten nach vorne genauso wie von vorne nach hinten lesen lässt.
So kann man auch die Gegenwart vor- und zurückspulen. Es handelt sich also um einen Zeitreisefilm, bei dem die Zeitreise in der Gegenwart stattfindet, auf verschiedenen Zeitebenen.
Im Kino ist das möglich, und es ist das besondere Können des Regisseurs Nolan, dass er immer wieder, auch in diesem Thriller über Relativitätstheorie und Quantenphysik, die Fähigkeit des Kinos ausreizt, unmögliche Bilder zu präsentieren, die innerhalb der filmischen Logik trotzdem funktionieren: Eine Mine, die rückwärts nach innen explodiert, oder ein Haus, das aus seinen Trümmern wieder zusammengesetzt wird. Auch das sind schöne, ungesehene Bilder.
Zugleich ist alles sehr klassischelegant: „Tenet“ist ein Spionagefilm, eine sehr avancierte, auch sehr zeitgemäße neue Version eines James-Bond-Films mit schönen und geheimnisvollen Frauen, spektakulären Jet-Set-Schauplätzen und ganz vielen Actionsequenzen.
Nicht unterschätzen sollte man, wie Nolan die Lust an Bewegung inszeniert – dies ist insgesamt ein schöner Film, der mit Schauwerten und mit Spektakel arbeitet. Auch dies ein Grund, warum man ins Kino geht. Schließlich ist dies ein ParanoiaTrailer. Nolan zeigt eine Welt, über die der Einzelne nicht (mehr) verfügt, der er fast ohnmächtig ausgeliefert ist.
In „Tenet“erlebt man eine Handlung zweimal; was rückwärts, was vorwärts ist, wird zunehmend unklarer. Dies alles ist in mancher Hinsicht auch der Wunschtraum unserer Zeit. Der Wunschtraum, dass man Dinge ungeschehen machen könnte, der Wunschtraum der universalen Manipulation: Es ist der Wunschtraum, dass jeder von uns Gott ist, der am Joystick Welten baut und Welten einstürzen lässt. Wenige Regisseure leben diesen Traum, den man nicht als Gotteskomplex pathologisieren muss, so sehr in ihren Filmen aus, wie Christopher Nolan.
Ob „Tenet“das Kino retten wird? Wenn, dann ist es nur zu retten, indem wir Zuschauer wieder lernen, uns hinzugeben, zu staunen, zu fühlen. Indem wir beginnen, mit uns selbst zu kämpfen.
Tenet. Regie: Christopher Nolan. Mit John David Washington, Robert Pattinson, Elizabeth Debicki. Großbritannien/USA 2019, 150 Min., FSK ab 12