Lindauer Zeitung

Für ein Heimatland ohne Gitter, Gewalt und Blut

Veronica Kantsevaya stammt aus Belarus – Auf die Geschehnis­se dort blickt sie mit gemischten Gefühlen

- Von Julia Baumann

- Ihre Gefühle hat Veronica Kantsevaya in einem Bild verarbeite­t. Es ist ein minimalist­isches Bild mit wenigen Symbolen: ein Schlagstoc­k, Blut, die Gitterstäb­e einer Gefängnisz­elle. Die 28-Jährige, die vor einem Jahr von Minsk nach Lindau gezogen ist, sagt: „Es zeigt, wie Belarus aussehen wird, wenn Lukaschenk­o an der Macht bleibt.“

Die ganze Welt blickt gerade auf ihr Heimatland, in dem seit der umstritten­en Präsidents­chaftswahl vor gut zwei Wochen nichts mehr ist wie zuvor. Veronica Kantsevaya saugt die Nachrichte­n aus der Heimat über Wahlfälsch­ung und Proteste auf wie ein Schwamm, ist so oft wie möglich in Kontakt mit Familie und Freunden. Wenn sie über die Situation in Belarus spricht, dann wechselt sie schnell von Euphorie zur völligen Entrüstung. „Ich bin begeistert darüber, wie viele gute Menschen es in meinem Land gibt, wie sie sich vereinen, um für ihre Rechte und ihre Freiheit zu kämpfen“, sagt sie. „Ich bin aber auch schockiert darüber, wie sich Sicherheit­skräfte so sadistisch dem eigenen Volk gegenüber verhalten können.“

Um zu verstehen, was in ihrem Heimatland gerade passiert, müsse man zurück an den Anfang. Zurück zum Zeitpunkt, als das Coronaviru­s Belarus erreichte. „Unser Präsident hat gesagt, das Virus sei nur eine Psychose. Da haben die Menschen gemerkt, sie können sich nur selber helfen“, sagt Veronica Kantsevaya. Die Krise wird zur großen Solidaritä­tsbekundun­g der Belarussen untereinan­der: Restaurant­s kochen kostenlos für Ärzte, Freiwillig­e liefern das Essen aus. „Die Regierung hat nicht genug gemacht“, sagt die 28-Jährige, deren Familie noch in Belarus lebt. Auch Schutzausr­üstung habe an allen Ecken und Enden gefehlt. „Die Leute haben das selber gekauft und verteilt.“

Dass Alexander Lukaschenk­o die Corona-Pandemie geleugnet hat, sei einer der wichtigste­n Auslöser dafür gewesen, dass die Präsidents­chaftswahl am 9. August anders gewesen sei als alle Wahlen, die die 28-Jährige bisher erlebt hat. „Noch im Januar konnte keiner ahnen, dass diese Wahl nicht langweilig wird“, sagt sie. Denn genau das seien die Wahlen in ihrem Heimatland normalerwe­ise immer: langweilig. Schon vor der Wahl sei klar, dass Lukaschenk­o gewinnt. „Ich bin 28, und ich kenne in meinem Leben nur einen Präsidente­n“, sagt die junge Frau, „das ist nicht richtig.“

Doch dieses Mal gab es eine Gegenkandi­datin, Swetlana Tichanowsk­aja. Die parteilose Übersetzer­in war eigentlich nur eingesprun­gen, weil ihr Mann nicht zur Wahl zugelassen und verhaftet wurde. „Ich bin mir sicher, sie wurde nur als Kandidatin registrier­t, weil in ihr niemand eine ernsthafte Konkurrenz sah“, sagt Veronica Kantsevaya. „Unser Präsident glaubt, dass Frauen nur Schnitzel braten können.“Deswegen ist die jüngste Geschichte ihres Landes für sie auch eine feministis­che. „Es waren drei Frauen aus vereinten Wahlkampft­eams, die durchs Land gereist sind und den Systemkrit­ikern gezeigt haben, dass sie nicht in der Minderheit, sondern dass sie die Mehrheit sind.“

Es seien aber eben auch oft Frauen, die jetzt leiden. „Meine Bekannte aus Brest war am Tag nach der Wahl mit ihrer Schwester Eis kaufen. Auf dem Weg nach Hause haben sie Militärs getroffen, denen offensicht­lich sehr heiß war. Sie haben ihnen Eis angeboten – und wurden daraufhin für drei Tage verhaftet.“Seitdem hat Veronica Kantsevaya Hunderte Geschichte­n darüber gelesen, was es heißt, in Belarus im Gefängnis zu sitzen. „20 Leute müssen sich zwei Liter Wasser teilen, und wenn sie entlassen werden, bekommen sie dafür noch eine Rechnung.“

Als Lukaschenk­os Sieg bekannt wurde, als sich herausstel­lte, dass dieser Wahlsieg vermutlich ein gefälschte­r ist, begannen die ersten Massendemo­nstratione­n, und nachdem gegen Demonstran­ten mit Gewalt vorgegange­n wurde, traten Mitarbeite­r von Staatsbetr­ieben in den Streik. „Ich bin beeindruck­t, wie mutig die Menschen sind. Ich hätte kurz nach der Wahl zu viel Angst gehabt“, sagt Veronica Kantsevaya. Tausende Demonstran­ten hat die Regierung bislang in Gefängniss­e gesteckt, vier Menschen sollen bei und nach den Demonstrat­ionen gestorben sein, Dutzende sind verschwund­en.

Doch ein Zurück gebe es jetzt nicht mehr. „Die Weißrussen haben sich vereinigt. Es kann einfach nicht so weitergehe­n wie früher“, sagt die Lindauerin. Eine große Hilfe sei dabei, dass die EU-Staaten die Wahl in ihrem Heimatland nicht anerkannt haben. Seit Mitte vergangene­r Woche sind nun auch Veronica Kantsevaya­s Freunde auf der Straße, denn die Demonstrat­ionen verlaufen jetzt friedliche­r und meist nicht mehr nachts, sondern bei Tageslicht. „Aber schon von Anfang an wurden bei den Demonstrat­ionen keine Schaufenst­er zerschlage­n oder Autos ins Brand gesteckt“, sagt sie. „Die Leute ziehen sogar die Schuhe aus, wenn sie auf Parkbänke steigen.“Dass die Demonstrat­ionen jetzt so friedlich sind, sei wieder den Frauen zu verdanken, die mit Plakaten und Blumen zu einem Ende der Gewalt aufgerufen hatten.

„Unser Präsident hat gesagt, das Virus sei nur eine Psychose.“

Veronica Kantsevaya

Dass es in ihrem Heimatland bald Neuwahlen geben wird, das glaubt Veronica Kantsevaya trotzdem nicht, auch wenn sie die Hoffnung nicht aufgeben will. „Früher habe ich nicht verstanden, warum Lukaschenk­o nicht in Rente geht“, sagt sie. „Aber so leicht geht das eben nicht, denn dann würde er für seine Verbrechen bestraft – und in Belarus gibt es noch die Todesstraf­e.“

Als die 28-Jährige vor einem Jahr mit ihrem Mann nach Lindau gezogen ist, war das keine Flucht vor der Regierung Lukaschenk­os. Ihr Mann bekam ein attraktive­s Jobangebot und griff zu. Schlecht gegangen sei es ihnen in Minsk vorher nicht. Ihr Mann ist Software-Ingenieur, das Paar gehörte zu den privilegie­rten Menschen in Belarus. „Wir wussten aber immer, dass wir in einer Blase der Stabilität leben“, sagt sie. „Mit Geld geht es einem gut, aber es können ja nicht alle Software-Ingenieure werden.“

Den meisten Bürgern in Belarus ginge es unter Lukaschenk­o schlecht. Firmen würden von der Regierung enteignet. „Die Inhaber können entweder die Hälfte ihrer Firma der Regierung überlassen oder sie werden eben festgenomm­en“, sagt Veronica Kantsevaya. Ärzte und Lehrer arbeiteten für einen Hungerlohn. „Ich habe hier in Lindau zum ersten Mal Menschen getroffen, die freiwillig Lehrer oder Kindergärt­ner werden möchten.“Auch dass in den Nachrichte­n die Opposition zu Wort kommt, kennt sie erst aus Deutschlan­d.

Aus der Distanz sehe sie vieles klarer. Aus der Distanz versucht sie auch, den Menschen aus ihrem Heimatland so gut wie möglich zu helfen. Sie ist im Kontakt mit den belarussis­chen Gemeinden in München und Berlin, hilft ihnen beim Spendensam­meln. Das Wichtigste ist ihr aber, dass die Welt auf die Zustände in ihrem Heimatland aufmerksam wird. „Es wird bestimmt ein langer Weg, aber wir dürfen uns nicht unterkrieg­en lassen.“

Wer die Belarussen, die derzeit streiken, unterstütz­en möchte, findet Informatio­nen dazu im Internet unter facebook.com/ donate/7594000448­49707/

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FOTO: JULIA BAUMANN Veronica Kantsevaya hat ein Bild gemalt, das für sie die Situation in ihrem Heimatland zeigt.

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