Drastisch mehr Kindeswohlgefährdungen
2019 rund 55 500 Fälle – Steigerung um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr
(dpa) - Immer mehr Minderjährige sind in ihren Familien nicht sicher: Das legt eine Statistik nahe, die am Donnerstag in Wiesbaden vorgestellt wurde. Die Jugendämter in Deutschland haben 2019 demnach bei rund 55 500 Kindern und Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Das waren zehn Prozent mehr an Fällen als 2018, wie das Statistische Bundesamt berichtete.
Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen habe einen neuen Höchststand erreicht, so die Statistiker. Die Statistik wird seit 2012 geführt. „Ein Grund für den Anstieg könnte die umfangreiche Berichterstattung über Missbrauchsfälle in den vergangenen beiden Jahren sein, die zu einer weiteren generellen Sensibilisierung der Öffentlichkeit sowie der Behörden geführt haben dürfte“, lautet eine mögliche Erklärung. „Gleichzeitig“, so hieß es, „können auch die tatsächlichen Fallzahlen gestiegen sein.“
Deutschland müsse mehr Geld in gut funktionierende präventive Netzwerke aus Jugendhilfe, Gesundheitsvorsorge und Bildungsinstitutionen investieren, forderte der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, angesichts der neuen Zahlen. Kinderrechte müssten in das Grundgesetz aufgenommen werden.
Bundesweit hatten die Jugendämter 2019 mehr als 173 000 Verdachtsfälle im Rahmen einer Gefährdungseinschätzung geprüft. Das waren rund 15 800 mehr als 2018. Den neuen Ergebnissen zufolge war jedes zweite gefährdete Kind jünger als acht Jahre. Die meisten Minderjährigen wuchsen bei Alleinerziehenden auf (42 Prozent). Bei beiden Eltern gemeinsam lebten 38 Prozent, bei einem Elternteil in neuer Partnerschaft elf Prozent.
Etwa die Hälfte der gefährdeten Kinder und Jugendlichen nahm zum
Zeitpunkt der Gefährdungseinschätzung bereits eine Leistung der Kinderund Jugendhilfe in Anspruch. Nur vier Prozent von ihnen hatten selbst Hilfe beim Jugendamt gesucht. Am häufigsten kam ein Hinweis von
Polizei, Gericht und Staatsanwaltschaft (22 Prozent), Schulen und Kitas (17 Prozent) oder aus dem privaten Umfeld beziehungsweise anonym (15 Prozent).
Die meisten gefährdeten Kinder wiesen der Statistik zufolge Anzeichen von Vernachlässigung auf (58 Prozent). Bei rund einem Drittel aller Fälle (32 Prozent) gab es Hinweise auf psychische Misshandlungen wie Demütigungen, Isolierung oder emotionale Kälte. In weiteren 27 Prozent der Fälle gab es Indizien für körperliche Misshandlungen, bei fünf Prozent Anzeichen für sexuelle Gewalt. „Auch wenn Kindeswohlgefährdungen durch sexuelle Gewalt mit rund 3000 Fällen am seltensten festgestellt wurden, war hier prozentual ein besonders starker Anstieg zu beobachten“, berichteten die Statistiker: Von 2018 auf 2019 nahmen die Fälle durch sexuelle Gewalt um 22 Prozent zu. 2019 registrierten die Jugendämter auch mehr betroffene Jungen.
In 20 Prozent aller Fälle schaltete das Jugendamt das Familiengericht ein, in 16 Prozent nahm es die Kinder vorübergehend in Obhut. Bei weiteren knapp 60 000 Kindern und Jugendlichen hat sich der Verdacht der Kindeswohlgefährdung nicht bestätigt, die Jugendämter sahen aber dennoch Hilfsbedarf. Die Zahl dieser Fälle nahm um zwölf Prozent zu. Nicht bestätigt hat sich der Verdacht in rund 58 400 Fällen, das waren acht Prozent mehr als 2018.
Bei der Angabe der Gründe für eine Kindeswohlgefährdung waren Mehrfachnennungen möglich.