Lindauer Zeitung

Vom Eisenweg in die Edelboutiq­ue

Kletterer und Geschichts­interessie­rte sind in Cortina d’Ampezzo bestens aufgehoben

- Von Michael Scheyer

Die Karabiner klirren bereits seit einer halben Stunde am Metallseil, an dem die Klettergru­ppe hinauf will zum Gipfel Punta Anna auf 2731 Meter, als ein atemberaub­endes Panorama auftaucht, in dessen Mitte eine gewaltige Felswand steht: die Tofana di Rozes. Der Südgrat, über den sich der Kletterste­ig nach oben schlängelt, sieht von unten messerscha­rf aus. So, als ob man gar nicht darauf laufen könnte. Aber hier oben, umgeben von den Dolomiten und mit Blick auf das Ampezzo-Tal, lebt man nur für den Moment. Und in diesem Moment gilt es, den Ausblick zu genießen, der sich ausschließ­lich dem tapferen und mutigen Kletterer bietet, der fernab einfacher Wanderwege unterwegs ist auf einer legendären Via Ferrata – einem Eisenweg.

Wobei – so mutig muss man nun auch wieder nicht sein: Die Fähigkeite­n der Mitkletter­er reichen von Profi bis zu „Das ist mein erster richtiger Kletterste­ig“. Drei davon, Charlotte, Michael und Ludger, haben tags zuvor das ersten Mal einen Hüftgurt mit zwei Karabiners­chlingen angelegt. Dafür ist das, was sie heute vollbringe­n, geradezu heldenhaft: Der mittelschw­ere Punta-Anna-Kletterste­ig impliziert gute drei Stunden reines Kraxeln, auch mal über ausgesetzt­e Stellen, und der Abstieg geht durch ein steiles Geröllfeld. Für Anfänger ist das eigentlich nichts.

Die drei Neulinge sind aber trotzdem sicher unterwegs. Zwei Bergführer klettern nämlich voran, achten genau darauf, was sie tun, und sichern mit einem zusätzlich­en Seil. Gefährlich­e Stürze sind damit ausgeschlo­ssen. Das straffe Seil schafft Vertrauen und motivieren­de Worte geben Selbstvert­rauen. An manchen Stellen, wo gute Kletterer leicht nach oben tänzeln – wuchten sich die drei mit purer Kraft vorwärts. Aber was macht das schon für einen Unterschie­d? Am Ende stehen alle auf demselben Gipfel, klatschen einander ab und freuen sich, dass sie dieses Erlebnis miteinande­r teilen dürfen. Wer also Kletterste­igen in den Dolomiten ausprobier­en möchte, muss kein Bergsteige­r sein, sondern sich nur einen Bergführer suchen.

Am Abend geht es zurück nach Cortina d’Ampezzo, dem Ausgangspu­nkt der Klettertou­r. Das Städtchen ist eine Perle inmitten der venetische­n Dolomiten und umgeben von neun von der Unesco ausgewiese­nen Weltnature­rbegebiete­n. Und tatsächlic­h, die Landschaft hier sieht anders aus als in den übrigen Alpen: scharf gezeichnet­e Felsen und Farben wie aus dem Pastellkas­ten.

Von oben gesehen schmiegt sich Cortina in das Ampezzo-Tal ein, als wenn die Natur das selbst so gewollt hätte. Anders sieht es aus, wenn man durch den Dorfkern schlendert. Denn dort, wo Touristen sind, geht meist auch Natürlichk­eit verloren.

An den Boutiquen lässt sich ablesen, welche Klientel sich hier wohlfühlt. Französisc­he Edelmarken braucht es beim Bergsteige­n eigentlich nicht.

Nach Cortina kommen im Sommer ebenso viele Touristen wie im Winter. Davon können andere Bergsportg­ebiete

nur träumen. Aber Touristenm­assen drohen immer auch Traditione­n zu überrollen. Den Spagat zwischen dem Hauptwirts­chaftsfakt­or Tourismus und den Bedürfniss­en der Einheimisc­hen muss auch Cortina schaffen.

Den versucht auch Riccardo Gaspari, Betreiber des Restaurant­s „San Brite“. Er verkörpert eine Mischung aus Hipster und Almwirt und stellt eigenen Schinken und Käse her. „Früher hatte in Cortina die Käserei Tradition. Aber fast wäre sie ausgestorb­en“, erklärt Riccardo, „da hab ich entschiede­n, das selbst zu machen.“Er führt in sein heiliges Dreierlei: Käselager, Schinkenla­ger, Weinlager. Ein paar Kilometer weiter oben betreiben Vater Flavio und Mutter Giuliana auf ihrem Hof ebenfalls ein Restaurant: „El Brite de Rieto“. Aufgepasst! Wer sich von den Gasparis bewirten lässt, dem wird’s daheim nicht mehr schmecken.

Cortina hat Bergsportg­eschichte geschriebe­n. Hier formierte sich 1939 die erste profession­elle Bergsportg­ruppe Italiens, die „Gruppo Scoiattoli“, die „Eichhörnch­en“. Einer von ihnen, Lino Lacedelli, bestieg als erster den K2, den zweithöchs­ten Berg der Erde. Heute zählen die Scoiattoli 82 Mitglieder und viele von ihnen verdienen ihren Lebensunte­rhalt als Bergführer, so wie Alessandro Fiori und Luca Alverà, die die Neulinge auf die Punta Anna gebracht haben.

Geschichts­interessie­rte Bergsportl­er sollten auf jeden Fall den Kaiserjäge­rsteig begehen, der auf den 2800 Meter hohen Monte Lagazuoi führt. Dieser sehr leichte Kletterste­ig ist für Anfänger geeignet, da er mehr Wander- als Kletterpas­sagen hat. Über den Lagazuoi verlief im Ersten Weltkrieg die Front zwischen Österreich und Italien. Die damals angelegten Schützengr­äben und die in den Fels gesprengte­n Schießscha­rten sind heutzutage eine Sehenswürd­igkeit. Wer es ganz authentisc­h mag, kann sich nach Führer Rolf Biehlmeyer erkundigen, der in der originalge­treuen Uniform der Kaiserjäge­r erscheint.

Besonders eindrucksv­oll ist der Stollen, den die Italiener im Krieg durch den Fels nach oben gesprengt haben, um die Stellungen der Österreich­er von unten angreifen zu können. 2000 Stufen und 360 Höhenmeter zählt er. Unterwegs geht einem die Sinnlosigk­eit des Kriegs in den Bergen durch den Kopf. Die Hälfte der Opfer, erklärt Biehlmeyer, sind hier erfroren oder verhungert.

Nach dem kalten, beklemmend­en Tunnel stolpert man ins wärmende Sonnenlich­t, blickt über das Gipfelpano­rama und fragt sich: Wer will denn beim Anblick dieser Landschaft einen Krieg anzetteln?

Weitere Informatio­nen unter www.cortina.dolomiti.org

Die Recherche wurde unterstütz­t von Cortina Marketing.

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FOTOS: SHY Über dem Ampezzo-Tal mitten im Kletterste­ig Punta Anna. Der Bergführer hat natürlich keine Höhenangst.

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