Vom Eisenweg in die Edelboutique
Kletterer und Geschichtsinteressierte sind in Cortina d’Ampezzo bestens aufgehoben
Die Karabiner klirren bereits seit einer halben Stunde am Metallseil, an dem die Klettergruppe hinauf will zum Gipfel Punta Anna auf 2731 Meter, als ein atemberaubendes Panorama auftaucht, in dessen Mitte eine gewaltige Felswand steht: die Tofana di Rozes. Der Südgrat, über den sich der Klettersteig nach oben schlängelt, sieht von unten messerscharf aus. So, als ob man gar nicht darauf laufen könnte. Aber hier oben, umgeben von den Dolomiten und mit Blick auf das Ampezzo-Tal, lebt man nur für den Moment. Und in diesem Moment gilt es, den Ausblick zu genießen, der sich ausschließlich dem tapferen und mutigen Kletterer bietet, der fernab einfacher Wanderwege unterwegs ist auf einer legendären Via Ferrata – einem Eisenweg.
Wobei – so mutig muss man nun auch wieder nicht sein: Die Fähigkeiten der Mitkletterer reichen von Profi bis zu „Das ist mein erster richtiger Klettersteig“. Drei davon, Charlotte, Michael und Ludger, haben tags zuvor das ersten Mal einen Hüftgurt mit zwei Karabinerschlingen angelegt. Dafür ist das, was sie heute vollbringen, geradezu heldenhaft: Der mittelschwere Punta-Anna-Klettersteig impliziert gute drei Stunden reines Kraxeln, auch mal über ausgesetzte Stellen, und der Abstieg geht durch ein steiles Geröllfeld. Für Anfänger ist das eigentlich nichts.
Die drei Neulinge sind aber trotzdem sicher unterwegs. Zwei Bergführer klettern nämlich voran, achten genau darauf, was sie tun, und sichern mit einem zusätzlichen Seil. Gefährliche Stürze sind damit ausgeschlossen. Das straffe Seil schafft Vertrauen und motivierende Worte geben Selbstvertrauen. An manchen Stellen, wo gute Kletterer leicht nach oben tänzeln – wuchten sich die drei mit purer Kraft vorwärts. Aber was macht das schon für einen Unterschied? Am Ende stehen alle auf demselben Gipfel, klatschen einander ab und freuen sich, dass sie dieses Erlebnis miteinander teilen dürfen. Wer also Klettersteigen in den Dolomiten ausprobieren möchte, muss kein Bergsteiger sein, sondern sich nur einen Bergführer suchen.
Am Abend geht es zurück nach Cortina d’Ampezzo, dem Ausgangspunkt der Klettertour. Das Städtchen ist eine Perle inmitten der venetischen Dolomiten und umgeben von neun von der Unesco ausgewiesenen Weltnaturerbegebieten. Und tatsächlich, die Landschaft hier sieht anders aus als in den übrigen Alpen: scharf gezeichnete Felsen und Farben wie aus dem Pastellkasten.
Von oben gesehen schmiegt sich Cortina in das Ampezzo-Tal ein, als wenn die Natur das selbst so gewollt hätte. Anders sieht es aus, wenn man durch den Dorfkern schlendert. Denn dort, wo Touristen sind, geht meist auch Natürlichkeit verloren.
An den Boutiquen lässt sich ablesen, welche Klientel sich hier wohlfühlt. Französische Edelmarken braucht es beim Bergsteigen eigentlich nicht.
Nach Cortina kommen im Sommer ebenso viele Touristen wie im Winter. Davon können andere Bergsportgebiete
nur träumen. Aber Touristenmassen drohen immer auch Traditionen zu überrollen. Den Spagat zwischen dem Hauptwirtschaftsfaktor Tourismus und den Bedürfnissen der Einheimischen muss auch Cortina schaffen.
Den versucht auch Riccardo Gaspari, Betreiber des Restaurants „San Brite“. Er verkörpert eine Mischung aus Hipster und Almwirt und stellt eigenen Schinken und Käse her. „Früher hatte in Cortina die Käserei Tradition. Aber fast wäre sie ausgestorben“, erklärt Riccardo, „da hab ich entschieden, das selbst zu machen.“Er führt in sein heiliges Dreierlei: Käselager, Schinkenlager, Weinlager. Ein paar Kilometer weiter oben betreiben Vater Flavio und Mutter Giuliana auf ihrem Hof ebenfalls ein Restaurant: „El Brite de Rieto“. Aufgepasst! Wer sich von den Gasparis bewirten lässt, dem wird’s daheim nicht mehr schmecken.
Cortina hat Bergsportgeschichte geschrieben. Hier formierte sich 1939 die erste professionelle Bergsportgruppe Italiens, die „Gruppo Scoiattoli“, die „Eichhörnchen“. Einer von ihnen, Lino Lacedelli, bestieg als erster den K2, den zweithöchsten Berg der Erde. Heute zählen die Scoiattoli 82 Mitglieder und viele von ihnen verdienen ihren Lebensunterhalt als Bergführer, so wie Alessandro Fiori und Luca Alverà, die die Neulinge auf die Punta Anna gebracht haben.
Geschichtsinteressierte Bergsportler sollten auf jeden Fall den Kaiserjägersteig begehen, der auf den 2800 Meter hohen Monte Lagazuoi führt. Dieser sehr leichte Klettersteig ist für Anfänger geeignet, da er mehr Wander- als Kletterpassagen hat. Über den Lagazuoi verlief im Ersten Weltkrieg die Front zwischen Österreich und Italien. Die damals angelegten Schützengräben und die in den Fels gesprengten Schießscharten sind heutzutage eine Sehenswürdigkeit. Wer es ganz authentisch mag, kann sich nach Führer Rolf Biehlmeyer erkundigen, der in der originalgetreuen Uniform der Kaiserjäger erscheint.
Besonders eindrucksvoll ist der Stollen, den die Italiener im Krieg durch den Fels nach oben gesprengt haben, um die Stellungen der Österreicher von unten angreifen zu können. 2000 Stufen und 360 Höhenmeter zählt er. Unterwegs geht einem die Sinnlosigkeit des Kriegs in den Bergen durch den Kopf. Die Hälfte der Opfer, erklärt Biehlmeyer, sind hier erfroren oder verhungert.
Nach dem kalten, beklemmenden Tunnel stolpert man ins wärmende Sonnenlicht, blickt über das Gipfelpanorama und fragt sich: Wer will denn beim Anblick dieser Landschaft einen Krieg anzetteln?
Weitere Informationen unter www.cortina.dolomiti.org
Die Recherche wurde unterstützt von Cortina Marketing.