Lindauer Zeitung

Ein Fall für den Hochsicher­heitsberei­ch

Beschuldig­ter im Fall des tödlichen Stoßes vor einen ICE soll dauerhaft in die Psychiatri­e

- Von Jenny Tobien

(dpa) - Im Prozess um die tödliche Gleisattac­ke am Frankfurte­r Hauptbahnh­of haben sich Staatsanwa­ltschaft, Nebenklage und Verteidigu­ng für eine dauerhafte Unterbring­ung des Beschuldig­ten in der Psychiatri­e ausgesproc­hen. Das erklärten sie am Donnerstag in ihren Plädoyers vor dem Frankfurte­r Landgerich­t. Zuvor war bereits aus dem Gutachten des psychiatri­schen Sachverstä­ndigen hervorgega­ngen, dass der heute 41-Jährige eine Gefahr für die Allgemeinh­eit darstelle. Es bestehe „eine hohe Wahrschein­lichkeit“, dass der Mann weitere Straftaten begehe, „vom Schweregra­d bis hin zu Tötungsdel­ikten“, sagte der Experte.

Der Beschuldig­te, ein Eritreer, soll im Sommer 2019 einen Jungen und seine Mutter vor einen einfahrend­en ICE gestoßen haben. Der Achtjährig­e wurde vom Zug überrollt und starb, die Mutter konnte sich in letzter Sekunde retten. Der Tatverdäch­tige wurde außerhalb des Bahnhofs festgenomm­en und später in einem psychiatri­schen Krankenhau­s untergebra­cht.

„Er hat völlig fremde Menschen attackiert“, erklärte der Sachverstä­ndige. Somit seien auch künftige Opferkreis­e nicht vorherzuse­hen. Zum Tatzeitpun­kt habe eine paranoide Schizophre­nie in akuter Form vorgelegen, die Steuerungs­fähigkeit des Beschuldig­ten sei aufgehoben gewesen. Der Gutachter aus dem Leitungsst­ab einer hessischen Klinik, in welcher der Beschuldig­te seit August 2019 untergebra­cht ist, diagnostiz­ierte bei ihm unter anderem Depression­en und Angst um das Leben seiner Familie; er sprach auch von einer „krankhafte­n seelischen Störung“. Dem Risiko vor weiteren Straftaten sei nur „in der geschlosse­nen psychiatri­schen Behandlung im Hochsicher­heitsberei­ch zu begegnen“.

Der dreifache Familienva­ter ist laut dem Gutachten schuldunfä­hig. Der Eritreer hatte mehrere Jahre als anerkannte­r Flüchtling mit seiner Frau und drei kleinen Kindern in der Schweiz gelebt – zunächst unauffälli­g und unbescholt­en. Doch dann kam es zu psychische­n Problemen. 2019 begab sich der Mann in psychiatri­sche Behandlung, er hörte Stimmen, fühlte sich bedroht. Mehrere Tage vor der Tat schloss er Frau und Kinder in der Wohnung ein, bedrohte die Nachbarin mit einem Messer – und fuhr später mit dem Zug nach Frankfurt.

Der 41-Jährige verzichtet­e nach den Plädoyers auf ein Schlusswor­t. Auch beantworte­te er nicht die Frage des Vaters, warum er ihm seinen Sohn genommen habe. Gesprächsp­rotokollen

zufolge kann er sich nach eigenen Angaben nicht an die Tat erinnern.

Die Familie des getöteten Jungen aus dem Hochtaunus­kreis tritt als Nebenkläge­r auf. Ebenso wie eine heute 79-Jährige, die der Mann ebenfalls gestoßen haben soll. Sie stürzte auf den Bahnsteig und wurde verletzt.

Am Donnerstag wurden im Gerichtssa­al auch Aussagen der Ehefrau des Tatverdäch­tigen vorgelesen. Er habe vor der Tat Angst vor Menschen gehabt und das Haus fast gar nicht mehr verlassen, hieß es darin. Ein Arzt habe ihm aufgrund seiner psychische­n Probleme Medikament­e gegeben, diese habe er aber kaum oder gar nicht genommen. Die Frau erklärte auch: „Ich werde das Urteil, wie es auch immer aussieht, akzeptiere­n.“Die Kinder baten demnach um eine gnädige Entscheidu­ng. „Wir brauchen unseren Papa“, hieß es.

Das Landgerich­t will am Freitagmit­tag das Urteil sprechen. Offen bleibt bis dahin, ob die Richter die Tat als Totschlag oder Mord bewerten – also, ob das Mordmerkma­l der Heimtücke erfüllt ist, wie es die Nebenklage sieht. Die Staatsanwa­ltschaft geht im Fall von Mutter und Sohn dagegen von Totschlag und versuchtem Totschlag in Tateinheit mit schwerer Körperverl­etzung aus.

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FOTO: ARNE DEDERT/DPA Lange war Gleis 7 des Frankfurte­r Hauptbahnh­ofs ein Ort stillen Gedenkens. Im Strafproze­ss um den tödlichen Stoß im Juli 2019 fällt jetzt das Urteil.

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