Nach zwei Tagen aus Gletscherspalte gerettet
Frau in Shorts überlebt Sturz in den Walliser Alpen unterkühlt, aber unverletzt
(dpa) - Die Retter sprechen von einem Wunder: Eine sommerlich leicht bekleidete Frau ist in den Walliser Alpen in der Schweiz in eine Gletscherspalte gestürzt und hat bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt fast zwei Tage und zwei Nächte überlebt. Die Russin, die laut Rettungsteam der Fluggesellschaft Air Zermatt in Deutschland wohnt, sei mit nur einer Unterkühlung geborgen worden. „Ich bin seit 21 Jahren Bergretter, aber dass jemand so etwas überlebt, ist in dieser Zeit noch nie vorgekommen“, sagte Einsatzleiter Helmut Lerjen. Er war zusammen mit Bergretter Richard Lehner am Ort des Geschehens. Lehner seilte sich in die Spalte ab und rettete die Frau.
Aber der Reihe nach: Die Frau Anfang 30 spazierte am Sonntag von der Monte-Rosa-Hütte auf 2883 Metern Höhe nur mit kurzer Hose bekleidet und kleinem Rucksack auf den Grenzgletscher im Monte-Rosa-Massiv oberhalb von Zermatt. Auf etwa 3725 Meter passiert es: Unter der Schneedecke tut sich – für die Frau unsichtbar – eine Gletscherspalte auf. Ein Schritt auf die Schneebrücke, die ihr Gewicht nicht hält, und sie stürzt mitsamt dem Schnee in die Tiefe. „Das Loch an der Oberfläche war höchstens ein mal ein Meter“, so Richard Lehner. „Darunter war die Spalte sicher 50, 60 Meter lang und stellenweise zwei bis drei Meter breit.“
Die Frau bleibt auf einem Vorsprung in zehn, 15 Metern Tiefe liegen. Die Nacht kommt. Auf der Höhe sinken die Temperaturen unter den Gefrierpunkt. „Da unten ist es auch noch feucht“, weiß Richard Lehner. „Der einzige Vorteil ist, dass in einer Gletscherspalte kein Wind geht.“Die Frau versucht, sich durch Rufe bemerkbar zu machen. Aber in dem unwegsamen Gelände sind nicht viele Leute unterwegs. Den ganzen Tag und eine weitere Nacht harrt sie in der Dunkelheit aus.
Ihr Glück naht Dienstagfrüh. Eine Gruppe von Bergsteigern ist zur
Margherita-Hütte direkt hinter der schweizerisch-italienischen Grenze unterwegs. Die gut ausgerüsteten Alpinisten orten zahlreiche Schneelöcher und müssen immer wieder Umwege gehen. Der Erste der Seilschaft hört plötzlich Hilferufe aus einer Spalte. Er setzt sofort einen Notruf ab. Die Alpinisten lassen ein Seil zu der Frau hinunter, damit sie sich sichern kann. Der Notruf geht an Helmut Lerjen. Er steigt mit Richard Lehner und dem Spaltenrettungsmaterial sofort in den Hubschrauber. „Wir haben in diesem Gebiet viele Spaltenunfälle, wir sind bestens vorbereitet“, sagt Lerjen. Der Hubschrauber kann in der Nähe des Unfallorts so nah am Boden schweben, dass beide aussteigen können. „Ich habe Kontakt mit der Frau aufgenommen. Ich habe ihr gesagt, dass die Rettung nun da ist, um sie zu beruhigen“, sagt Richard Lehner.
Über dem Loch stellen Lerjen und Lehner das Dreibein auf, vom Aussehen ähnlich wie ein Kamerastativ. Daran sind Seilwinden, mit denen Lerjen Lehner langsam in die Spalte hinunterlässt. „Allein schon so einen Sturz zu überleben ist ein Riesenglück“, sagt Lehner. „Wenn man da mit dem
Kopf aufschlägt, kann man sich tödliche Verletzungen zuziehen.“Er findet die Frau auf einem kleinen Vorsprung. „Sie war sehr ruhig und hat wenig gesprochen.“Sie habe nicht über Schmerzen geklagt. „Sie stand unter Schock und war mit den Gedanken sehr bei sich selbst.“
Richard Lehner schaut kurz, ob die Frau größere Verletzungen hat, sichert sie dann mit Gurten, und Helmut Lerjen zieht sie mit der Seilwinde an die Oberfläche. Zuvor hat er bereits den Hubschrauber mit Notarzt alarmiert. Die Air Zermatt meldet später, dass die Frau zwar mit 34 Grad Körpertemperatur unterkühlt war, aber sonst unverletzt geblieben sei.
Für die Bergretter geht es einzig darum, Menschen nach Unfällen zu retten. Wie diese in ihre missliche Lage gekommen sind, hinterfragen sie nicht. Grundsätzlich ist aber klar: In Shorts einen Ausflug auf einen Gletscher zu unternehmen, das ist fahrlässig. „Man geht grundsätzlich nie ohne Ausrüstung oder allein auf einen Gletscher,“sagt ein anderer Bergretter. Laut Air Zermatt hatte der Hüttenwart der Monte-Rosa-Hütte die Frau noch gewarnt.