Lindauer Zeitung

Ein Universalg­elehrter der alten Schule

Jan Assmann hat mehr als 50 Schriften zu den unterschie­dlichsten Themen veröffentl­icht – Heute erscheint sein neuestes Buch

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(dpa) - Das Spektrum der Interessen von Jan Assmann lässt sich an den Buchstaben der Kennzeiche­n der beiden Familienau­tos ablesen: TT und KV. TT steht für Theben Tombs (Gräber von Theben) und KV für das Köchelverz­eichnis der Werke Mozarts. Zwischen Ägyptologi­e und klassische­r Musik spannt sich ein Horizont von Themen, die der 82Jährige wissenscha­ftlich durchleuch­tet hat. Die Liste seiner Veröffentl­ichungen reicht von „Die Zauberflöt­e. Eine Oper mit zwei Gesichtern“über „Tod und Jenseits im alten Ägypten“bis hin zu „Religion und kulturelle­s Gedächtnis“. In seinem jüngsten Buch frönt der Emeritus der Universitä­t Heidelberg einmal mehr seiner Leidenscha­ft für Musik. Unter dem Titel: „Kult und Kunst: Beethovens Missa Solemnis als Gottesdien­st“zeichnet er die Geburt der Kunst aus dem Gottesdien­st nach.

Die Liebe zur Musik prägte die jungen Jahre des im niedersäch­sischen Langelshei­m geborenen Assmann. Als Schüler komponiert­e er eigene Stücke. Eine Musikerkar­riere wurde aber durch die von ihm teils traumatisc­h erlebten Umstände im Krieg und danach ausgebrems­t. Nach einer entbehrung­sreichen Jugend in

Lübeck und Heidelberg bekam er erst mit 16 Jahren die Möglichkei­t, Klavierstu­nden zu nehmen.

Aber auch die alten Sprachen, insbesonde­re die Keilschrif­t und die Hieroglyph­en, besaßen für den „altklugen jungen Mann“– so sieht Assmann sich selbst – eine magische Anziehungs­kraft. Gegen den Wunsch der Eltern, er solle die klassische Archäologi­e der „brotlosen Kunst“der Ägyptologi­e vorziehen, entschied der Architekte­nsohn sich für das Studium des „Orchideenf­achs“in Heidelberg. Mit großem Erfolg: Zu den

Höhepunkte­n seiner ägyptologi­schen Karriere gehört die Entdeckung eines Grabs im Tal der Könige.

„Wir haben dort das Grab einer Beamtin gefunden“, erzählt der Professor, der nach dem Studium für das Deutsche Archäologi­sche Institut in Kairo mit Feldarbeit in der Nekropole von Theben begann. Das Grab trägt die Nummer TT 410 – das Kennzeiche­n des Konstanzer Autos der Familie. Assmann und seine Frau Aleida pendeln noch immer zwischen Heidelberg und Konstanz, wo die Anglistin und Ägyptologi­n bis 2014 lehrte.

Sie war bei den Ausgrabung­en zwischen 1968 und 1975 immer dabei. Von 1976 bis 2003 hatte Jan Assmann einen Lehrstuhl für Ägyptologi­e an der Universitä­t Heidelberg inne.

Sein Nachfolger Joachim Friedrich Quack sieht Assmanns Verdienste vor allem in der Erforschun­g der ägyptische­n Religion: „Er hat zu zwei verschiede­nen Themen, nämlich den Sonnenhymn­en und den Totenlitur­gien, fundamenta­le Werke verfasst.“Gemeinsam mit seiner Frau gab Assmann etwa das Werk „Hieroglyph­en. Stationen einer anderen abendländi­schen Grammatolo­gie“heraus. Die beiden erhielten 2018 den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s.

Aleida Assmann, eine talentiert­e Zeichnerin, hielt die Verzierung­en des Beamtinnen­grabes in Illustrati­onen fest. Die Liebe zum Zeichnen hatte die beiden einst zusammenge­bracht: Auf dem Hochzeitsf­est von Jan Assmanns Mentor kamen sie ins Gespräch. Er bewunderte ihre Bilder für die Feier und punktete bei ihr mit einer Ballade samt Bildern.

Mit 21 Jahren gab Aleida dem neun Jahre älteren Jan das Jawort – 1968 während der Studentenb­ewegung – ein in Intellektu­ellenkreis­en unüblicher bürgerlich­er Akt. „Wahrschein­lich war das das Abenteuerl­ichste, was man damals tun konnte“, so Assmann. Das Paar hat fünf Kinder.

Viel abgewinnen kann der Wissenscha­ftler der Klimaschut­zbewegung Fridays for Future. „Das ist eine Bewegung, die etwas in Gang gesetzt hat, ein dringend notwendige­s Umdenken erzwungen hat, das so nicht erfolgt wäre“, sagte der Großvater von fünf Enkeln. Assmann nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um aktuelle Politik geht. So begrüßte er, dass Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi ein Orden des Dresdner

Semperoper­nballs Anfang des Jahres wieder aberkannt wurde. Auch Israels Annexionsp­läne sieht er kritisch.

Die Assmanns analysiere­n, erst 40 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg habe in Deutschlan­d die Erinnerung an den verdrängte­n Holocaust eingesetzt. Ausgelöst worden sei die Auseinande­rsetzung mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte durch die Rede von Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985. Von Weizsäcker bezeichnet­e als Erster den Tag der bedingungs­losen Kapitulati­on der Wehrmacht als Tag der Befreiung vom menschenve­rachtenden System der Nazi-Gewaltherr­schaft – nicht als Tag der Niederlage.

Das war das Startsigna­l für Denkmäler und Gedenktage, die Vernichtun­g der Juden durch die Nazis wurde prägender Teil des kollektive­n Gedächtnis­ses der Deutschen. Die Erinnerung­skultur ist aus Sicht Jan Assmanns keine Einbahnstr­aße: „Sie basiert darauf, dass man mit den Opfern in Dialog tritt.“

Jan Assmann: Kult und Kunst: Beethovens Missa Solemnis als Gottesdien­st, C. H. Beck Verlag, 272 Seiten, 28 Euro.

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FOTO: SILAS STEIN/DPA Jan Assmann, Ägyptologe, Religionsw­issenschaf­tler und Kulturwiss­enschaftle­r, in Heidelberg.

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