Der Gipfel der Genüsse
Vor 200 Jahren begannen die Arbeiten am Stilfser Joch, einem der längsten Alpenpässe
(KNA) - Spitzkehren und Lawinengalerien, spektakuläre Ausund Tiefblicke, dazu das röhrende Motorengeräusch von Sportwagen: Eine Fahrt hinauf zum Stilfser Joch ist nichts für schwache Nerven.
Heil auf 2757 Meter über Normalnull angekommen, lässt sich zwischen Lombardei und Südtirol auf dem „höchsten Rummelplatz Europas“trefflich über die negativen Folgen des Tourismus in den Alpen sinnieren. Gleichzeitig verschlägt einem die majestätische Landschaft rings um das Ortlermassiv den Atem. Wo heute Autofahrer um den besten Parkplatz und Rennradler um das schönste Selfie vor dem Denkmal für Giro-Legende Fausto Coppi kämpfen, hatten früher Militärstrategen das Sagen.
Vor 200 Jahren, im Sommer 1820, begannen die Bauarbeiten. Bei der Neuordnung Europas nach der Ära Napoleon war die Lombardei kurz zuvor an Österreich gefallen. Kaiser Franz I. machte sich sogleich daran, die neuen Außengrenzen seines Kaiserreichs abzusichern und das Wegenetz in diesem Teil der rätischen Alpen für allfällige Truppenbewegungen auszubauen.
Unter der Ägide des aus Brescia stammenden Ingenieurs Carlo Donegani, später geadelt zum „Nobile di Monte Stelvio“, griffen zeitweilig mehr als 2000 Arbeiter am Tag zu Hacke und Spaten.
Bereits im Oktober 1825 konnte die rund 50 Kilometer lange Trasse der Öffentlichkeit übergeben werden. Ein rekordverdächtiges Tempo angesichts der Tatsache, dass in dieser Höhe zumeist ein komplett unwirtliches Klima mit Schnee bis tief ins Frühjahr herrscht. Franz I. besichtigte 1832 höchstselbst den Meilenstein der Straßenbaukunst; sein Nachfolger Ferdinand I. gab sich sechs Jahre später die Ehre.
Das Kalkül der Mächtigen ging freilich nicht auf. Als es Aufständischen aus der Lombardei 1848 gelang, die Trasse zu blockieren, indem sie einige der damals noch hölzernen Lawinenschutztunnel in Brand setzten, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Militärs auf niedriger gelegene Pässe der Umgebung.
Und es wurde ganz allmählich stiller um den Stelvio, der allerdings während des Ersten Weltkriegs noch einmal Teil der sogenannten Italienfront wurde. Noch heute finden sich Überreste der Kämpfe im Hochgebirge.
Der Handel nutzte die Route nur zeitweilig. Lediglich Wein und Seide wurden in den Anfangsjahren in nennenswertem Umfang Richtung Norden transportiert. „Der Hauptverkehr über das Stilfser Joch blieb doch immer der Personenverkehr“, bilanzierte ein gewisser Hermann Pernter schon zum 100-jährigen Bestehen der Passstraße. „Und zwar einerseits wegen der kürzesten Verbindung zwischen der Lombardei und den deutschen Landen und andererseits insbesondere ob der Naturschönheiten, die eine Fahrt über diese höchste Kunststraße der Alpen bietet.“
Den Superlativ der höchsten Alpenstraße behielt der Stelvio bis Mitte der 1930er-Jahre, als der 2764 Meter
hohe Col de l'Iseran in Frankreich für den Verkehr freigegeben wurde. Ein Gigant bleibt er trotzdem – mit manchen spannenden Geschichten am Wegesrand. So wie im 90-SeelenWeiler Trafoi auf der Südtiroler Seite. Der Ortsname lässt sich auf das rätoromanische „Tra Ful“(„drei Quellen“) zurückführen. Der Legende nach sah im 13. Jahrhundert ein Hirtenjunge namens Moritz in der Nähe der heutigen Siedlung drei Rinnsale aus dem Fels brechen. „Jedes davon trug ein Kreuz mit sich – zwei davon konnte der Hirte erhaschen. Das dritte wurde fortgespült“, heißt es auf der Homepage von Trafoi.
Die im 15. Jahrhundert an der Stelle des wundersamen Ereignisses errichtete Kapelle mit einem Muttergottes-Gnadenbild zog bald Pilger aus der näheren und ferneren Umgebung an. Den Quellen werden bis heute heilende Kräfte zugesprochen. Und anders als direkt an der Passstraße ist es hier, in drei Kilometer Entfernung vom Ortskern Trafoi, geradezu himmlisch ruhig.