Klassik im Fluss
Bei den Kahngesängen in Tübingen erklingt die Musik im Einklang mit dem Neckar
Der Stocherkahn schaukelt sanft hin und her. Die Blätter der Bäume auf der Neckarinsel rascheln im Wind. Der Mond lugt hinter den Wolken hervor – fast kugelrund. „Au calme clair de lune triste et beau“, singt Karin Hoffmann im Licht des Mondes, das sich heute tatsächlich im Wasser spiegelt. Der weiße Mantel der Musikerin schimmert hell in der Dämmerung. Die Sängerin steht im Heck des Stocherkahns, den traditionellen Booten der Tübinger Studentenverbindungen. Vom Text „Im sanften Mondlicht, traurig und wunderschön“passt das zweite Attribut perfekt zum Augenblick. „Qui fait rêver les oiseaux dans les arbres“, singt die Musikpädagogin das Lied von Gabriel Fauré weiter: „Während die Vögel in den Bäumen träumen.“
Die Vögel sind inzwischen alle verstummt. Pfeilschnell fliegen ein paar Fledermäuse vorbei, und eine Ente begleitet die drei Holzkähne, die im schwindenden Tageslicht vom Bootssteg am Hölderlinturm abgelegt haben. Die leichte, eingängige Musik verleitet die Zuhörer auf den Booten zum Träumen. Einige haben die Augen geschlossen und geben sich ganz dem Moment hin. Andere blicken in den nächtlichen Himmel, wo die ersten Sterne glitzern. Paarweise sitzen sich die Konzertbesucher gegenüber, ein Holzbrett als Rückenlehne.
Der Pianist Herwig Rutt hat vor der Mezzosopranistin am E-Piano Platz genommen, das von einer Motorradbatterie gespeist wird. Sein Spiel wird über das Wasser bis ans Ufer getragen, wo Spaziergänger stehen geblieben sind und lauschen. Plötzlich gerät das Boot ins Schwanken. „Die Kähne sind sicher“, beruhigt Thomas Schneider, einer der Bootsführer die Zuhörer. Auch wenn der keltische Name Neckar „wilder, unbezähmbarer Stier“bedeutet. Die sanften Töne scheinen den Fluss zumindest für heute zu zähmen. Der „Gondoliere“bewegt den knapp zehn Meter langen Kahn mit einer langen Holzstange vorwärts und erklärt: „Nur wenn alle von einer Seite gleichzeitig aufstehen, wird es kritisch“. In einer Dreier-Formation fahren die Boote den Fluss hinauf. Es geht vorbei an der malerischen Kulisse der Altstadt mit den kleinen Restaurants, schmucken Balkonen und Terrassen, von denen Lachen und Gläserklirren zu hören sind. Ab und zu hängen die Äste der mächtigen Bäume bis ins Wasser hinunter. Von den Gärten weht ein süßlicher Duft herüber – es riecht nach Sommer.
In der Mitte der Dreier-Formation gleitet der Musikkahn durchs Wasser, von dem jetzt das „Schwanenlied“von Fanny Mendelssohn erklingt. Die Schwester von Felix Mendelssohn Bartholdy lässt darin einen Schwan den eigenen Tod besingen. „Es fällt ein Stern herunter aus seiner funkelnden Höh’“, singt Hoffmann mit klarer Stimme. „Der Stern ist knisternd zerstoben, verklungen das Schwanenlied.“Die letzten Töne des
Lieds hallen nach. Obwohl es Fanny Mendelssohn zu ihrer Zeit nicht erlaubt war, öffentlich in Erscheinung zu treten, komponierte sie wie ihr Bruder. Es folgen noch einige Lieder dieser Komponistin, die 1847 mit 41 Jahren starb: „Bitte“, „Abendbild“und „Nachtwanderer“gehören neben Werken von Gustav Mahler, Claude Debussy und Franz Schubert zum Repertoire des Mondscheinkonzerts auf dem Stocherkahn.
Ursprünglich fuhren Neckarfischer mit den Tübinger Flachbooten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten dann Studenten die Kähne für sich und machten sie zum festen Bestandteil der studentischen Kultur. Von den rund 130 Booten, die auf dem Neckar zugelassen sind, gehören heute noch die meisten zu den studentischen Vereinigungen. Inzwischen haben die zwei Kapitäne und Kapitänin, Simone Gärtner, die Boote gewendet. Die einfachste Methode sie zu lenken ist, die Stange fast in ihrer ganzen Länge im Wasser einzutauchen und sie so wie ein Ruder einzusetzen. Je länger die Boote, desto schwieriger das Wendemanöver auf dem teilweise recht schmalen Gewässer. Doch für die drei erfahrenen Kahnlenker ist das kein Problem.
Flussabwärts geht es wieder der Innenstadt entgegen. Inzwischen ist es ganz dunkel geworden. Hoffmanns Gesang und das Klavierspiel von Rutt verbinden sich als zartes Klangband mit dem Neckar. Die Musik, das Wasser – alles ist im Fluss. Nur noch wenige Kerzen flackern im Bug der Boote, der auffrischende Wind hat die meisten inzwischen ausgeblasen. In der Ferne tauchen die Umrisse des Hölderlinturms auf. Das markante Gebäude und Wahrzeichen der Stadt ist ein wichtiger literarischer Erinnerungsort. Denn
Sommerzeit
hier hat der Dichter Friedrich Hölderlin die zweite Hälfte seines Lebens verbracht. Anlässlich seines 250-jährigen Geburtstags wurde der Turm umgestaltet.
Das Abschlusslied des Mondscheinkonzerts auf dem Wasser kennt jeder: „Der Mond ist aufgegangen“von Johann Schulz. „Wie ist die Welt so stille und in der Dämmerung Hülle so traulich und so hold!“, klingt es durch die Nacht. Nach der letzten Strophe herrscht tatsächlich kurz Stille – ein letzter magischer Augenblick. Bevor die Geräusche der Innenstadt langsam wieder ins Bewusstsein der Besucher dringen.
2020 können die Kahngesänge nur als Gruppenevent gebucht werden unter
www.kahngesaenge.de/aktuell Touren mit dem Stocherkahn gibt es auch ohne Musik vom Tübinger Bürger- und Verkehrsverein
(www.tuebingen-info.de).