Lindauer Zeitung

Der US-Sport ist in Aufruhr

Streikende Athleten, abgesagte Spiele – Ligen kommen nach Polizeigew­alt zum Stillstand

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(SID) - Sie hatten genug. Nach den sieben Schüssen eines weißen Polizisten auf einen Schwarzen, nach stundenlan­gen Diskussion­en in ihrer Blase in Florida und aufgewühlt von einem Gefühl der Ohnmacht hatten sie genug, sie konnten und wollten nicht mehr: Die Milwaukee Bucks aus dem Bundesstaa­t Wisconsin, Meistersch­aftsfavori­t in der Basketball-Profiliga NBA, beheimatet rund 55 Kilometer nördlich der Stadt Kenosha, in der Jacob Blake am Sonntag niedergest­reckt worden war, gingen aus Protest in den Streik. Und das war erst der Anfang.

Innerhalb weniger, dramatisch­er Stunden kam am Mittwoch der USSport zum Erliegen – kurz vor dem vierten Jahrestag des ersten Kniefalls von Quarterbac­k Colin Kaepernick, der mit seinem Protest nicht zuletzt auf die Polizeigew­alt gegen Schwarze aufmerksam machen wollte.

Zuerst boykottier­ten die Bucks ihr Play-off-Spiel in der Blase in Disney World, und weil sich ihr Gegner Orlando Magic und vier weitere Clubs solidarisc­h zeigten, sagte die NBA auch die zwei übrigen Spiele an diesem Tag ab. Weitere Ligen folgten. „Eine solche starke Positionie­rung auf politische­r Ebene und über mehrere Ligen hinweg gab es noch nicht“, sagte Stephan Wassong, Leiter des Instituts für Sportgesch­ichte an der Deutschen Sporthochs­chule Köln.

Wassong erkennt im aktuellen Prostestve­rhalten, dass die selbstbewu­sst auftretend­en Sportler ein „ganz neues Selbstvers­tändnis entwickelt haben. Und dass die Sportler auch ihre Medienwirk­samkeit verantwort­ungsvoll nutzen und darstellen.“Sie seien sich ihrer Vorbildfun­ktion bewusst und der Sport besitze „die Kraft, meinungsbi­ldend zu wirken.“Ein kraftvolle­s Statement gab im Laufe dieses historisch­en Tages auch Naomi Osaka ab: Japans ehemalige Nummer 1 der TennisWelt­rangliste erklärte, sie verzichte auf ihre Teilnahme am Halbfinale bei den Western & Southern Open in New York. „Ich bin eine Tennisspie­lerin, aber zuallerers­t bin ich eine schwarze Frau“, teilte sie mit. Sie habe „es satt, die immer gleiche Debatte zu führen. Wann ist es endlich genug?“Die Veranstalt­er der Generalpro­be für die US Open sagten daraufhin alle Spiele am Donnerstag ab. Nach „längeren Gesprächen mit der WTA und dem US-Tennisverb­and USTA“stimmte Osaka schließlic­h zu „am Freitag zu spielen“.

Dass in der NBA Tatsachen geschaffen werden könnten, hatte sich bereits am Dienstag abgezeichn­et. Nachdem viele Spieler angesichts der Unruhen nach der Ermordung des Schwarzen George Floyd durch weiße Polizisten ohnehin nur widerwilli­g in die Blase in Florida gezogen waren, diskutiert­en zuerst die Spieler von Titelverte­idiger Toronto Raptors über einen Streik. „Wir reden über Veränderun­gen“, sagte Point Guard Fred VanVleet, „aber irgendwann müssen wir unsere Chips auf den Tisch legen und riskieren, dass wir etwas verlieren.“

Am Dienstag boykottier­ten bereits die Detroit Lions aus der Football-Liga NFL ihr Training aus Protest gegen die Schüsse auf Blake. Auch die Spieler der Bucks wollten nicht mehr nur reden, sondern handeln und Druck aufbauen. In einer Mitteilung schrieben sie: „Wir rufen nach Gerechtigk­eit für Jacob Blake und fordern, dass die Polizeibea­mten zur Rechenscha­ft gezogen werden.“Damit dies geschehe, sei es „unumgängli­ch“, dass die Gesetzgebe­r von Wisconsin nach „Monaten der Untätigkei­t“nun „endlich bedeutende Maßnahmen“ergriffen.

Die Bucks erlebten eine Welle der Solidaritä­t, nicht nur aus der NBA. Die Frauen-Profiliga WNBA sagte ebenfalls alle Spiele am Mittwoch ab. Zuvor hatten Spielerinn­en von sechs Mannschaft­en weiße T-Shirts mit sieben aufgedruck­ten Einschussl­öchern am Rücken angezogen und still auf dem Spielfeld protestier­t. Auch die Profiligen im Baseball (MLB) und Fußball (MLS) zogen mit und sagten alle noch am Mittwoch anstehende­n Spiele ab. Die Eishockey-Liga NHL dagegen blamierte sich – sie spielte fast ungerührt weiter.

Der Boykott der NBA-Spieler sei „unvermeidl­ich“gewesen, analysiert­e der renommiert­e Autor William C. Rhoden auf dem Portal The Undefeated. Klar erscheint auch, was die Sportler bezwecken wollen. „Sie haben Einfluss, aber die Clubbesitz­er haben politische Macht“, schrieb

Rhoden. In der Tat sind die Proficlubs in Nordamerik­a ein bedeutende­r Wirtschaft­sfaktor, zumal in einer Stadt wie Milwaukee oder einem Bundesstaa­t wie Wisconsin. Streiken die Spieler, verlieren die Clubeigent­ümer, verliert die global aufgestell­te Liga viel Geld.

Dennoch: Wie es weitergeht, ist unklar. Am Mittwochab­end trafen sich die NBA-Spieler in der Blase in Disney World, um das weitere Vorgehen zu beraten. Ihre Glaubwürdi­gkeit, ihre Rolle als weltweite Vorbilder steht auf dem Spiel. Es heißt, die Los Angeles Lakers um ihren Superstar LeBron James und der Lokalrival­e Clippers wollen in dieser Saison gar nicht mehr spielen. Nach Informatio­nen des Senders ESPN wollen die Spieler der NBA zwar zu den weiteren Play-off-Spielen wieder antreten, doch erst einmal sollen die für Donnerstag angesetzte­n drei Spiele verschoben werden. Was danach passiert, wird weiter diskutiert werden. Auch die nahe Zukunft der übrigen Sportwettb­ewerbe ist ungewiss, auch Saisonabbr­üche sind längst nicht mehr ausgeschlo­ssen.

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FOTO: ERIN HOOLEY/CHICAGO TRIBUNE/IMAGO IMAGES Die Milwaukee Bucks begannen, andere zogen nach, nun stehen viele Ligen still.

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