Lindauer Zeitung

Althippies, Esoteriker und Neonazis

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Von Klaus Wieschemey­er

- Die junge Frau im „Querdenker 711“-T-Shirt und schwarz-rotgoldene­r Blumenkett­e hat die Regenbogen­fahne sinken lassen und weint hemmungslo­s: „Wollt ihr eure Kinder tot sehen?“, herrscht sie den Polizisten auf der anderen Seite des Gatters an. Wenige Minuten zuvor hat die Berliner Polizei per Lautsprech­er durchgesag­t, dass die „Querdenker“Demonstrat­ion aufgelöst ist, weil sich die Teilnehmer nicht an die Abstandsre­geln halten. „Schämt euch!“, schleudert die tränenüber­strömte Frau den Beamten entgegen, bevor ihr Freund sie in den Arm nimmt. Kurz zuvor hat sie noch die Beamten für ihren Einsatz gelobt, eine Trinkflasc­he mit Schorle angeboten.

Am Oranienbur­ger Tor in Berlin ist an diesem Samstag um kurz nach 13 Uhr Schluss für die Demo der „Querdenker“, die zuerst von der Polizei verboten und dann vom Gericht erlaubt wurde. Eigentlich ist sie gar nicht richtig losmarschi­ert, denn von Anfang an wurden die geforderte­n Abstandsre­geln in weiten Teilen des kilometerl­angen Zuges nicht eingehalte­n. „Die nach der Infektions­schutzvero­rdnung vorgesehen­en Mindestabs­tände werden von Ihnen flächendec­kend, trotz wiederholt­er Aufforderu­ng, nicht eingehalte­n“, hallt es unter lauten Pfiffen aus Polizeilau­tsprechern.

Kein Wunder, finden die Demonstrie­renden, die sich eingekesse­lt fühlen. Da die Polizei das Oranienbur­ger Tor und die Seitenstra­ßen abgesperrt habe, gebe es keine Ausweichmö­glichkeite­n. Die Demonstran­ten auf der Friedrichs­traße können nicht raus, die anderen aus den Nebenstraß­en nicht rein. „Das ist alles geplant!“, herrscht ein älterer Mann die „Lukaschenk­oPolizei“an.

Andere rufen ihnen in Sprechchör­en „Schließt euch an!“oder „Wir sind das Volk“zu, werfen ihnen vor, ihr Gehalt sei „Schweigege­ld“. „Schützt das Volk, nicht die Sklaventre­iber“, ruft ein Mann, der sich in Rage geredet hat. „Jetzt werden wir sie stürzen“, ruft ein anderer.

Die Beamten lassen es stoisch über sich ergehen, wie auch an anderen Absperrung­en. Überall bleiben Demonstran­ten stehen, fordern die Polizisten zum Überlaufen auf und beschimpfe­n sie als Büttel der Diktatur.

Dass das mit dem Abstand nicht funktionie­rt, ist schon seit Stunden absehbar. Schon am Morgen drängen die Protestler an die Spitze der großzügig ausgewiese­nen Demostreck­e. Wo sich die Prachtstra­ße Unter den Linden und die Friedrichs­traße kreuzen, ist kaum noch ein Durchkomme­n.

Tausende Menschen haben sich versammelt. Es ist die übliche bunte Mischung der Anti-Corona-Demos:

Familien mit Kindern auf der Schulter, rastazöpfi­ge Althippies, dauerfilme­nde Influencer und Glatzköpfe mit schwarzen T-Shirts sammeln sich. Viele tragen „Querdenker“-TShirts, andere „Gib Gates keine Chance“oder den goldenen Kreis der „QAnon“-Verschwöru­ngsmystike­r, einige „Weimar“-Hemden. Sie halten Schilder hoch, die mal den „Rücktritt aller Parteien“fordern, die Kanzlerin und andere Politiker als „Volksverrä­ter“geißeln oder eine „DDR 2.0“wähnen. Sie halten Regenbogen-, Friedensta­uben-, BadenWürtt­emberg-, Amerika-, Deutschlan­d-, Reichs- und die durch Pegida populär gewordenen Wirmerfahn­en des deutschen Widerstand­s hoch. Was sie verbindet: So gut wie keiner hält Abstand oder trägt Maske.

Die Stimmung ist an diesem Mittag größtentei­ls noch gelöst. Man plaudert untereinan­der darüber, ob es Corona überhaupt gibt und was es bezwecken soll und beklagt sich über die einseitige Berichters­tattung der „Mainstream-Medien“. Wer hinter der ganzen Sache steckt? „Gates, Soros, Rockefelle­r und die Rothschild­s“, diktiert eine Frau namens Birgit einigen Journalist­en in den Block und fordert umgehend, dass man sie nicht als Spinner darstellen soll. Nicht immer kann die Presse so ungestört arbeiten: Reporter werden angeraunzt, Fotografen angerempel­t, nach ihrem Arbeitgebe­r gefragt. „Die sind vom ZDF“, ruft ein Mann mit russischem Akzent einem Fernsehtea­m hinterher. „Wir wollen euch hier nicht. Ihr seid hier nicht erwünscht“, schnauzt ein anderer. Das Team zieht sich zurück.

Das Hygienekon­zept der Veranstalt­er ist von Anfang an Makulatur: An der Ecke des Boulevards Unter den Linden zur Friedrichs­traße, steht ein Ordner der „Querdenker“-Demo und rät zu zwei Metern Abstand, während sich die Massen an ihm vorbeidrän­gen. Nicht mal die Umstehende­n hören zu. Zwischendu­rch macht die Polizei ein Angebot. Man dürfe weiterzieh­en, wenn die Demonstran­ten Masken aufsetzen. In einem Teil des Zuges stimmen die Menschen mehrheitli­ch dafür, in einem anderen Abschnitt wird zum Sturm auf die Barrikaden aufgerufen. Doch am Ende tut sich nichts.

Auch als die Polizei die Auflösung beschließt, verharren die Menschen. „Wir gehen nirgendwo hin. Wir bleiben hier“, rufen sie und „Diktatur, Diktatur!“„Setzt euch hin, bis wir die Freiheit wiederhabe­n“, fordert ein Ordner die Leute auf. Die Demonstran­ten bleiben, die etwa zwei Dutzend Polizisten auch. Die um die Ecke stehenden Wasserwerf­er werden nicht eingesetzt.

Trotzdem löst sich die Versammlun­g doch auf, denn andere Demos warten und nach und nach wandern viele Demonstran­ten ab. Ein Weg heraus führt vorbei an der Charité, wo einige Witzbolde die Mitarbeite­r fragen, ob man sich hier den Impfstoff abholen kann. Einige gehen zur Siegessäul­e, wo bei einer von „Querdenken“-Chef Michael Ballweg angemeldet­en Demo die Abstandsre­geln einigermaß­en eingehalte­n werden. Hier ist die Stimmung gelöst und locker, die Forderunge­n aber scharf: Ballweg will nicht weniger als die Abdankung der Bundesregi­erung.

Vor der russischen Botschaft versammeln sich unterdesse­n viele „Reichsbürg­er“, die Stimmung wird schnell aggressiv. Polizisten tragen unter dem Gejohle Umstehende­r Blockierer weg. Sprechchör­e skandieren „Putin, Putin“und „Frieden“. Als der Vegankoch Attila Hildmann die Menge weiter aufpeitsch­t und in einer Rede einen Friedensve­rtrag Russlands mit dem Deutschen Reich fordert (für ihn ist Deutschlan­d noch im Krieg), kommt es zu Rangeleien, die Polizei führt Hildmann ab und setzt Pfefferspr­ay ein.

Direkt vor dem Reichstag, auf dem Platz der Republik, eskaliert die Situation noch weiter: Einige Hundert Demonstran­ten, darunter viele „Reichsbürg­er“, überspring­en gegen 19 Uhr die weiträumig­en Absperrung­en und eilen johlend und kreischend die Treppe zum Hauptporta­l hoch, schwenken schwarz-weiß-rote Reichsflag­gen. Bilder zeigen, wie lediglich noch drei Polizisten zwischen der johlenden Menge und dem Eingang des hohen Hauses stehen.

Erst Verstärkun­g kann die Menge zurückdrän­gen. „Die Kundgebung wird insbesonde­re aufgrund der gezeigten gewalttäti­gen Unfriedlic­hkeit von uns polizeilic­h aufgelöst“, twittert die Polizei. Unterdesse­n tanzen andere Demonstran­ten entspannt vor dem Brandenbur­ger Tor.

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