Lindauer Zeitung

Polizeipan­ne an der Reichstags­treppe

Extremiste­n von rechts nutzen die Gelegenhei­t und ziehen bis vor den Deutschen Bundestag – Diskussion über Schutz des Gebäudes

- Von Andreas Rabenstein

(dpa) - Die losstürmen­den Demonstran­ten können es zunächst kaum fassen, wie leicht sie zum Zentrum der Demokratie vordringen. Zu Dutzenden rennen sie am Samstagabe­nd gegen 19 Uhr auf das imposante Reichstags­gebäude in Berlin zu, überklette­rn Absperrgit­ter oder stoßen sie um, laufen die Treppen zum Besucherei­ngang auf der Westseite hoch und stehen jubelnd und kreischend auf dem Absatz vor den verschloss­enen Glastüren, hinter denen ein Pförtner sitzt. „Wahnsinn, Wahnsinn“, schreit ein Mann in einem der Videos, die sich schnell im Internet verbreiten.

Hunderte Menschen stehen schließlic­h triumphier­end auf der großen Treppe. Es sind Männer und Frauen, Junge und Ältere sind dabei, es ist keine einheitlic­he Szene. Viele sind wohl einfach spontan mitgerannt, wie in den Videos zu sehen ist. Einige Männer schwenken die schwarz-weiß-rote Fahne des deutschen Kaiserreic­hs, ein Symbol der „Reichsbürg­er“-Szene, die die Bundesrepu­blik ablehnt. Auch deutsche, russische, amerikanis­che Fahnen und Transparen­te sind zu sehen, so wie schon zuvor an der russischen Botschaft, wo es eine Versammlun­g der „Reichsbürg­er“gab.

Die Demonstran­ten filmen sich gegenseiti­g. „Wir sind das Volk“, ist zu hören, aber auch rechtsextr­eme

Beschimpfu­ngen und der bekannte Schlachtru­f dieser Szene: „Widerstand“. Von hinten ruft ein Mann: „Wir sind friedlich, wir sind friedlich.“Zwischen Eingang und aufgeheizt­er Menge stehen in diesem Moment nur noch drei Polizisten, die ihre Schlagstöc­ke schwenken und die Menschen auf Abstand halten. Schließlic­h eilen von den Seiten zahlreiche weitere Polizisten herbei, sprühen Pfefferspr­ay in die Menge und drängen sie die Stufen hinunter.

Den ganzen Tag hatten um die 40 000 Menschen in der Berliner Innenstadt gegen die Corona-Politik demonstrie­rt. Die Bilder von dem Sturm auf die Treppe vor dem Reichstag überdecken aber alles andere.

Videos der Szenen werden im Internet mehr als eine Million Mal aufgerufen. Im Stundentak­t äußern sich – abgesehen von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) – Spitzenpol­itiker (siehe Randspalte).

Warum die Aufregung über einen Vorfall, bei dem es keine Gewalt und keine Verletzten gab, so groß ist, erklärt Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU), der vom „symbolisch­en Zentrum unserer freiheitli­chen Demokratie“spricht. „Dass Chaoten und Extremiste­n es für ihre Zwecke missbrauch­en, ist unerträgli­ch.“

Nun ist für die konkrete Einsatztak­tik vor Ort weniger ein Innensenat­or als die Polizei zuständig. Warum die Berliner Polizei, die den ganzen Tag lang 3000 Beamte aus verschiede­nen Bundesländ­ern dirigierte, ausgerechn­et vor dem Reichstag so peinlich überrascht und überrannt wird, erklärte sie am Sonntag zunächst nicht.

Polizeispr­echer Thilo Cablitz hatte am Samstagabe­nd nur gesagt: „Wir können nicht immer überall präsent sein, genau diese Lücke wurde genutzt, um hier die Absperrung zu übersteige­n, zu durchbrech­en.“Innensenat­or Geisel ging gar nicht erst näher auf die gravierend­e Panne ein. Er sieht sich bestätigt, weil er vor demonstrie­renden Rechtsextr­emisten gewarnt hatte. Die Polizei habe „diesen Spuk schnell beendet“, erklärt er dann.

Ganz so überzeugen­d sehen das offenbar nicht alle. Der SPD- Fraktionsg­eschäftsfü­hrer Carsten Schneider kündigte an: „Ich werde morgen eine Sondersitz­ung des Ältestenra­tes beantragen, um die Pläne zur Errichtung einer Sicherheit­szone zu überprüfen und für eine schnelle Umsetzung zu sorgen.“

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FOTO: ACHILLE ABBOUD/DPA Auf den Stufen zum Reichstags­gebäude waren am Samstagabe­nd zahlreiche schwarz-weiß-rote Reichsflag­gen zu sehen: Extremiste­n hatten sich unter die Corona-Demonstran­ten gemischt.

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