Zehntausende trotzen Putins Drohung
Dutzende Festnahmen bei Protesten in Minsk – Kreml-Chef sagt Lukaschenko Unterstützung zu
(dpa) - Das martialische Aufgebot an Truppen am Unabhängigkeitsplatz in Minsk ist so massiv wie seit der Präsidentenwahl vor drei Wochen nicht mehr. An seinem 66. Geburtstag setzt der umstrittene Staatschef Alexander Lukaschenko am Sonntag Hundertschaften von Uniformierten und Spezialtechnik gegen friedliche Demonstranten ein. Sein Ziel: Keine Massendemonstration mehr zulassen mit Hunderttausenden – wie an den beiden letzten Sonntagen.
Doch trotz der bedrohlichen Lage sind Zehntausende auf den Beinen. Viele lassen sich auch von der Drohung des Kremlchefs Wladimir Putin nicht abschrecken, Lukaschenko russische Truppen zu Hilfe zu schicken. Zwar erreichen die Bürger diesmal nicht den Unabhängigkeitsplatz in Minsk. Er ist mit Metallgittern abgesperrt. Es gibt Festnahmen. Aber an vielen Stellen der Stadt versammeln sich Tausende Menschen – und stellen sich mutig den Uniformierten entgegen. „Uchodi!“– „Hau ab!“– skandiert die Menge. Und „Lukaschenko w Awtosak“– „Lukaschenko in den Gefangenentransporter“.
Seit der Präsidentenwahl vor drei Wochen gehen die Menschen in dem zwischen Russland und EU-Mitglied Polen gelegenen Land jeden Tag auf die Straße. Sie fordern den Rücktritt Lukaschenkos und Neuwahlen.
International steht die Abstimmung als grob gefälscht in der Kritik. Kremlchef Wladimir Putin bekräftigte am Wochenende dennoch, dass er Lukaschenko für den Wahlsieger hält. Mit Blick auf die Fälschungsvorwürfe meinte er: In der Welt sei nichts „ideal“. Bei einem Telefonat zu Lukaschenkos Geburtstag vereinbarten beide Präsidenten ein persönliches Treffen in Moskau, wie der Kreml mitteilte.
Thema diesmal auf der Straße ist auch die Forderung an Putin, sich nicht einzumischen. Viele Belarussen sind enttäuscht, dass sich der Kremlchef auf Lukaschenkos Seite geschlagen hat. „Wir hatten auf eine neutrale Position Russlands gehofft“, sagt der frühere Kulturminister Pawel Latuschko. Das sei nun vorbei. Latuschko räumt ein, dass der „Druck“ eine psychologische Wirkung auf die Proteste habe. Putins Machtwort stärkt den Machtapparat in Belarus, der inzwischen immer härter gegen jene vor geht, die Proteste organisieren.
„Dass sich Putin jetzt so äußern muss, zeigt, wie schwach Lukaschenko ist, wie sehr er sein Volk fürchtet“, sagt die Oppositionelle Maria Kolesnikowa in Minsk. Dass Lukaschenko nun dasselbe Russland um Hilfe bitten muss, dem er noch im Wahlkampf vorwarf, es wolle sich Belarus einverleiben, sei eine große Blamage. Andere gehen weiter und meinen, dass Putin nun gezeigt habe, wer der Herr in Belarus ist. Putins Drohung, im Notfall eine Kampfreserve einzusetzen, gilt aber nicht nur als Warnung an die Opposition, sich zurückzuhalten. Es ist auch ein Signal an den Westen, sich nicht einzumischen.
Der Westen habe in dem Konflikt den Test, seine eigenen Werte durchzusetzen, nicht bestanden, meint die Moskauer Politologin Lilija Schewzowa. „Nur nicht Russland provozieren – diese Angst bestimmt die westliche Reaktion auf den belarussischen August.“Der westliche Ansatz, Konflikte mit Kompromissen zu lösen, sei im Fall von Diktatoren von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der Westen werde sich wegen Belarus nie mit der Atommacht Russland anlegen.
Die Experten in Moskau und in Minsk sind sich einig, dass sich Putin seine Hilfe für Lukaschenko gut bezahlen lassen wird – und Belarus damit deutlich abhängiger von Russland werden könnte als bisher. Putin behalte damit zwar seine Pufferzone zur Nato, dafür bekomme er aber ein bankrottes Land, meint Schewzowa. Und sie befürchtet, dass Putin das Wertvollste verliert: die russlandfreundliche Stimmung in Belarus.