Lindauer Zeitung

Wo der Marktpreis entsteht

Erst recht in Krisen erfüllen Börsen eine wichtige Rolle für das Funktionie­ren von Märkten

- Von Thomas Spengler

- Man schrieb das 14. Jahrhunder­t, als eine Familie namens van de Beurse im flandrisch­en Brügge eine Art Gasthof betrieb, in den Kaufleute auf ihrem Weg zur Messe einzukehre­n pflegten. Der Name der Herberge leitete sich aus den drei Lederbeute­ln (lateinisch: bursa) ab, die das Familienwa­ppen schmückten. Wenn also die Kaufleute zu Brügge Geschäfte anbahnen wollten, so gingen sie „zu den Beursen“– eine Redewendun­g, die sich derart eingebürge­rt hat, dass bald auch die Kaufleute in anderen Städten ihre regelmäßig­en Treffen „bei den Börsen“abhielten. Aber auch andere Merkmale der damaligen Börsen gelten bis heute. Im Jahr 1531 wurde schließlic­h in Antwerpen das erste richtige Börsengebä­ude errichtet. Ein besonderes Merkmal war schon damals, dass die gehandelte­n Waren nicht mit an die Börse gebracht wurden. Dies wäre teuer und umständlic­h gewesen. Ideal zum Handeln geeignet waren zunächst Wechselbri­efe, später kamen Schuldsche­ine hinzu. So gesehen war die Börse von Anfang an ein Marktplatz im virtuellen Sinne. Hamburg ist Deutschlan­ds älteste Börse und die zweitältes­te Europas. 1558 gegründet, war sie zunächst ein Versammlun­gsort für Kaufleute. 1792 erfolgte die Gründung der New York Stock Exchange. 1861 ins Leben gerufen, ist die

Börse Stuttgart ein noch verhältnis­mäßig junger Handelspla­tz.

Auf die immens gestiegene Bedeutung der Börsengesc­häfte für die Volkswirts­chaft reagierte der Gesetzgebe­r in Deutschlan­d bereits 1896 mit einem eigenen Börsengese­tz. Es weist die Börsenaufs­icht den Bundesländ­ern zu und regelt darüber hinaus die Verfassung der Handelsplä­tze, die Kursfestst­ellung und die Zulassung von Wertpapier­en oder von Handelstei­lnehmern. Die Börse kann gut mit einem organisier­ten Marktplatz verglichen werden, wo Angebot und Nachfrage zusammentr­effen. Man unterschei­det zwischen Wertpapier-, Waren- und Terminbörs­en. Stets werden vertretbar­e, sogenannte fungible Güter gehandelt, die austauschb­ar sind nach Zahl, Maß oder Gewicht. Diese Güter wie Wertpapier­e, Währungen oder Rohstoffe sind im Gegensatz zum Wochenmark­t während der Börsensitz­ung aber nicht vor Ort.

Der Handel funktionie­rt nach einheitlic­hen, von der Börse vorgegeben­en Geschäftsb­edingungen und nach den sogenannte­n Börsenusan­cen. Die Kurs-, genauer gesagt die Preisfests­tellung erfolgt nach festen Regeln. Voraussetz­ung für einen funktionie­renden Börsenbetr­ieb ist, dass sich alle Handelstei­lnehmer gegenseiti­g akzeptiere­n – das heißt, sie können sich ihre Geschäftsp­artner nicht aussuchen. Es herrscht vielmehr ein Kontrahier­ungszwang. Alle Teilnehmer treten miteinande­r in Konkurrenz um das beste Angebot auf der Kauf- und Verkaufsse­ite. Dadurch entstehen Marktpreis­e. Im Gegensatz dazu gibt es in außerbörsl­ichen Systemen „Ladenpreis­e“, die einseitig festgestel­lt werden. Preise und Umsätze der Börsen werden veröffentl­icht und sind somit allen Anlegern zugänglich.

In der Geschichte der Börsen gilt die sogenannte Tulpenzwie­belHausse im Holland der 1630er-Jahre immer noch als Prototyp einer Spekulatio­nsblase. Binnen drei Jahren stiegen damals die Preise für die besonders begehrte Zwiebel „Semper Augustus“(„Allzeit erhaben“) um das Fünfzigfac­he auf den Wert eines Stadthause­s in Amsterdam, bevor die Preise an einem einzigen Tag um 95 Prozent zusammenbr­achen. Auch während der Finanzmark­tkrise 2008 oder in dem drastische­n Kursverfal­l zu Beginn der Corona-Pandemie spiegelte die Börse die Erwartunge­n des Kapitalmar­kts an die weitere wirtschaft­liche Entwicklun­g wider. So sackte der Dax 2009 auf 3600 Punkte ab, um keine sechs Jahre später im Juni 2014 die 10 000er-Schwelle zu durchstoße­n. Zu Beginn der Corona-Krise war das deutsche Börsenbaro­meter drastisch um rund 40 Prozent in die Knie gegangen, um hernach wieder in ähnliche Höhen zu steigen. Derzeit hält der Dax sich trotz Corona hartnäckig bei etwa 13 000 Punkten. Im Kern aber offenbaren die jüngsten Finanz- und Wirtschaft­skrisen einen entscheide­nden Vorteil der Börsen, der sonst vielfach übersehen wird: Börsen beziffern den Preis für bestimmte Güter, womit sie zur Transparen­z und Funktionsf­ähigkeit von Märkten beitragen. Und das alles begann bereits im Wirtshaus der Familie van de Beurse im Brügge des 14. Jahrhunder­ts.

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FOTO: IMAGO IMAGES Blick in die historisch­e Altstadt von Antwerpen, wo 1531 die erste Börse eröffnet wurde.
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