Momente der Versunkenheit
Gastauftritt des Arditti Quartet in Weingarten
- Ein hoffnungsvolles Zeichen setzte der künstlerische Leiter Rolf W. Stoll des neugeborenen weit!-Festivals der Neuen Musik, das 2021 zum ersten Mal in Weingarten stattfinden wird, mit einem erst im Juli geplanten Konzert unter dem Thema „... ins Offene ... Hölderlin – Nono – Zender“. Dafür konnte glücklicherweise das in der Neuen Musik seit mehr als 40 Jahren international bekannte Arditti Quartet gewonnen werden, das im kommenden Jahr auch dabei sein wird. Unterstützt unter anderem von der Hans und Gertrud Zender-Stiftung gelang mit diesem Konzert eine eindrucksvolle Voreinstimmung auf das nächste Jahr.
Unter normalen Bedingungen wäre die Aula der PH Weingarten sicher bis zum letzten Platz besetzt gewesen, so aber förderte der Sicherheitsabstand zwischen den Stühlen sogar die Konzentration und wirkte sich akustisch nicht negativ aus. Im ersten Teil ein Vortrag zu Hölderlin von Roland Reuß, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Uni Heidelberg, der sich länger mit den beiden Textvorlagen zu „Fragmente – Stille, An Diotima“für Streichquartett von Luigi
Nono und „Mnemosyne – Hölderlin lesen IV für Frauenstimme und Streichquartett“von Hans Zender auseinandersetzte. Die Betrachtung resümierte die grundsätzliche Verschiedenheit der Herangehensweise der Komponisten, indem Nono „nicht biografisch“und Zender „viel philologischer“vorgehe. Das ideale Frauenbild der Diotima, das mit der Geliebten Susette Gontard nicht gleichzusetzen sei, habe nicht Hölderlin, sondern vor ihm bereits Schlegel entwickelt.
Mit Spannung erwartet wurde nach der halbstündigen Pause die musikalische Umsetzung der als freie Assoziationen benutzten Diotima-Verse durch den Venezianer Luigi Nono (1924-1990), 1980 in Bonn uraufgeführt. Von der ersten Sekunde an war man gebannt von diesen fadendünnen, heiseren, drängenden, immer wieder abrupt gebrochenen Tönen der vier Instrumente, die kaum Volumen entwickelten, sondern mehr Impressionen von Luft, Wasser oder Wind versinnbildlichten.
Dazwischen tiefe, Sekunden dauernde Stille. Und sehr langsam eine Erwiderung, ein Dialog, der am Ende dieses Faszinosums zu einem einzigen, feinen Tonfaden verwoben wird und verebbt. Eindrucksvoll in der konzentrierten Reduktion und ebenso brillant in der Ausführung des phänomenalen Quartetts, das 1974 von dem britischen Geiger Irvine Arditti gegründet worden ist und seit 2003 den brasilianischen Bratschisten Ralf Ehlers, den deutschen Cellisten Lucas Fels und den armenischen Geiger Ashot Sarkissjan zu seinen Mitgliedern zählt. Mehr als 200 CD-Aufnahmen sind in diesen Jahrzehnten entstanden.
Hans Zenders Werk „Mnemosyne“(uraufgeführt 2001 in Witten) gliedert Hölderlins Gedicht an die Muse der Erinnerung in drei Teile, die jeweils nach einer instrumentalen Einleitung gesprochen, gesungen oder geflüstert werden. Im Mittelteil wird die Stimme zum Teil digital gedoppelt. Salome Kammer verfügt über diese immense Palette an Stimmfarben, die vom dramatischen Schrei bis hin zur deutlichen, fast lautlosen Artikulation reichen und begeisterte auch mit einer vollendet natürlichen Gestik und Mimik das Publikum.
Ein Konzert mit großem Nachhall – gedanken- und stimmungsreich und in dieser Zeit eine wunderbare geistige Nahrung. Man darf gespannt sein auf das am 5. Dezember 2020 geplante Konzert zum Thema „Kafka Vor dem Gesetz“.