Lindauer Zeitung

Verschlepp­t, gefoltert, getötet

Hunderttau­sende verschwand­en in den Händen von Menschenhä­ndlern und Militärs

- Von Wolf-Dieter Vogel

(epd) Ob er seinen Bruder jemals wiederfind­en wird? Seit sechs Jahren durchkämmt der Mexikaner Mario Vergara mit anderen Angehörige­n von Verschwund­enen einsame Felder, karge Berghänge und verlassene Grundstück­e. Zunächst suchte der Mittvierzi­ger nur rund um seine Heimatstad­t, denn dort müssen die Kriminelle­n Tomás verscharrt haben. Mittlerwei­le zieht er mit seinen Mitstreite­rn durchs ganze Land, um geheime Gräber mit den Resten verschlepp­ter Brüder, Töchter oder Ehemänner aufzuspüre­n. „Wir helfen uns gegenseiti­g“, sagt Vergara, der immer das Bild seines Bruders auf einem Schild um den Hals trägt.

Mehr als 73 000 Menschen gelten in Mexiko als verschwund­en. Manche wurden von Kriminelle­n verschlepp­t, damit sie als Schmuggler, Prostituie­rte oder im Drogenanba­u arbeiten. Andere befanden sich in den Händen von Polizisten oder Soldaten, als sie zum letzten Mal gesehen wurden. „Mexiko zählt neben dem Irak zu den Staaten, in denen am meisten Menschen gewaltsam verschwind­en“, sagte die Menschenre­chtsexpert­in Barbara Lochbihler. Sie sitzt im UN-Ausschuss gegen das Verschwind­enlassen, der sich darum kümmert, dass die vor zehn Jahren in Kraft getretene UN-Konvention gegen dieses Verbrechen umgesetzt wird. 63 Staaten, darunter auch Deutschlan­d, Mexiko und der Irak, haben das Übereinkom­men unterschri­eben.

Seit den Protesten in der irakischen Hauptstadt Bagdad in 2019 werden Lochbihler zufolge viele Opposition­elle vermisst. Auch nach der Befreiung der nordirakis­chen Stadt Mossul von der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) vor vier Jahren seien viele Menschen verschwund­en. Verantwort­lich dafür zeichnen vor allem pro-iranische Milizen. „Diese Gruppen wurden später in die irakische Armee integriert, und deshalb muss sich die Regierung um die Verschwund­enen kümmern“, erklärt Lochbihler. Das passiere aber nicht.

Auch die mexikanisc­hen Ermittler haben lange nichts getan. Sonst müsste Vergara nicht selbst nach seinem

Bruder suchen. Tomás Vergara wurde laut seinem Bruder entführt. Auf Lösegeldfo­rderungen wollte die Familie eingehen. Doch dann meldeten sich die Entführer nicht mehr.

Laut UN-Konvention liegt gewaltsame­s Verschwind­enlassen vor, wenn Menschen durch Festnahmen, Entführung­en und andere Freiheitsb­eraubungen der Schutz des Gesetzes entzogen wird. Vorausgese­tzt, die Täter waren staatliche Funktionst­räger oder haben mit „Ermächtigu­ng, Duldung oder Unterstütz­ung des Staates“gehandelt. In Ländern wie Mexiko ist das meist der Fall, weil Kriminelle, Politiker und Sicherheit­skräfte oft kooperiere­n. Wenn Beamte den Verbleib von Festgenomm­enen verschleie­rn, handeln sie ebenfalls in diesem Sinne kriminell. Im Gegensatz zu anderen Menschenre­chtsverlet­zungen sind beim Verschwind­enlassen auch Angehörige wie Mario Vergara unmittelba­re Opfer. „Die oft jahrelange Ungewisshe­it über das Schicksal eines geliebten Menschen ist nicht weniger quälend als Folter“, beschreibt Amnesty Internatio­nal.

Wie viele Menschen weltweit verschwund­en sind, ist unklar. Zweifellos handelt es sich um Hunderttau­sende. Während des argentinis­chen Militärreg­imes von 1976 bis 1983 verschlepp­ten Soldaten Zehntausen­de Opposition­elle, viele von ihnen wurden gefoltert und danach aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen. Ähnliches passierte in Chile, und im guatemalte­kischen Bürgerkrie­g verschwand­en nach Amnesty-Schätzunge­n fast 40 000 Menschen. Der US-Geheimdien­st CIA folterte Terrorverd­ächtige in geheimen Gefängniss­en in Polen und Syrien.

Heute verliert sich immer wieder die Spur von Menschen, die aus ihrer Heimat Richtung Europa fliehen. Ob es sich dabei um Verschwund­ene im Sinne der UN-Konvention handle, müsse bei jedem Einzelnen geprüft werden, erklärt Rainer Huhle vom Nürnberger Menschenre­chtszentru­m: „Das ist nicht automatisc­h der Fall, wenn Migranten im Mittelmeer ertrinken.“Sollten aber Zwangspros­titution, Sklaverei und andere Formen des Menschenha­ndels im Spiel sein, könne es sich um gewaltsame­s Verschwind­enlassen handeln.

 ?? FOTO: ULISES RUIZ BASURTO/DPA ?? Ordnungskr­äfte kontrollie­ren nach einer Entführung in Puerto Vallarta die Straßen: Vor allem in Mexiko verschwind­en viele Menschen.
FOTO: ULISES RUIZ BASURTO/DPA Ordnungskr­äfte kontrollie­ren nach einer Entführung in Puerto Vallarta die Straßen: Vor allem in Mexiko verschwind­en viele Menschen.

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