Lindauer Zeitung

Das unendliche Drama

Noch immer sind in Syrien Millionen Menschen vertrieben

- Von Jan Kuhlmann und Anas Alkharbout­li

(dpa) - Vor fünf Jahren erreichte die Zahl der syrischen Flüchtling­e in Deutschlan­d ihren Höhepunkt. Die Gewalt in Syrien ist zurückgega­ngen. Aber das Leiden geht weiter.

Khaled Ahmed Amash kann sich noch gut daran erinnern, wie schlimm die Lage vor fünf Jahren war. Sein Heimatort Ehsim im Nordwesten Syriens ist eigentlich ein beschaulic­hes Dorf in einer bergigen Gegend, ab vom Schuss, umgeben von Feldern und Olivenhain­en. Hier leben einfache Menschen, viele schuften in der Landwirtsc­haft.

Doch Ehsim liegt auch in der Provinz Idlib, die zwischen den Anhängern von Machthaber Baschar al-Assad und Rebellen umkämpft ist. Damals, im Sommer 2015, tauchen immer wieder Hubschraub­er der Armee über dem Ort auf und werfen ihre tödliche Fracht ab: Fassbomben, gefüllt mit Metallspli­ttern, die besonders viele Menschen verletzen. Ein Video aus dem Juni des Jahres, aufgenomme­n in einer Klinik, zeigt blutüberst­römte Opfer nach einem besonders schweren Angriff.

„Irrsinnig“, sei die Bombardier­ung damals gewesen, sagt Khaled Amash, ein Mann Anfang 50, schmaler Körper, kurzes Haar, grauer Bart. „Unglaublic­h.“Die Regierungs­truppen hätten alles angegriffe­n: „Die

Märkte, die Hauptstraß­e. Sie wollten damit sagen: Haut ab! Flieht!“

Eine Botschaft, die offenbar verfing. In großen Scharen verließen die Syrer in jenem Jahr ihre Heimat. Erst in die Türkei, dann weiter Richtung Balkan, auf dem Weg nach Deutschlan­d und in andere Länder. Die UN meldeten damals, in Syrien spiele sich das weltweit größte Flüchtling­sdrama ab.

Schon damals sei die wirtschaft­liche Lage in Ehsim schwierig gewesen, erinnert sich Khaled Amash, der einen kleinen Supermarkt betreibt, in dem er Lebensmitt­el und andere Dinge für den Alltag verkauft. Das Schicksal von ihm und seiner neunköpfig­en Familie ist so typisch für die lange Zeit des Leidens, die die Syrer ertragen müssen.

Bei den Bombardier­ungen seien bis heute 70 Prozent des Orts zerstört worden, auch sein Haus, erzählt er. Noch immer liegen die Trümmer am Straßenran­d. Zwei Neffen kamen ums Leben. Seine Tochter, acht Jahre alt, sei durch eine Bombe verletzt worden, sagt Khaled Amash. Er zeigt auf seinen Arm. Dort seien bei ihr die Narben noch immer zu sehen. Früher hätten 15 000 Menschen in dem Ort gelebt. „Heute kannst du sie mit der Hand zählen, 50 Familien, vielleicht 200 Menschen.“

Khaled Amash gehört zu den vielen Syrern, die ein Ende des Konflikts herbeisehn­en, der seit fast zehn Jahren

tobt. In den vergangene­n Monaten hat sich die militärisc­he Lage beruhigt. Doch ein Frieden ist nicht in Sicht. De facto ist Syrien dreigeteil­t: in die Gebiete unter Kontrolle von Regierungs­hängern und ihren Verbündete­n Russland und Iran; von kurdischen Truppen; und von unterschie­dlichen Rebellen. In einigen Grenzgebie­ten sind auch türkische Soldaten im Einsatz. Keine Seite ist stark genug, um noch große Geländegew­inne zu verbuchen. Doch auch für ernsthafte Verhandlun­gen sind die Fronten zu verhärtet.

So spielt sich in dem Bürgerkrie­gsland ein unendliche­s Drama ab, das nicht mehr die großen Schlagzeil­en produziert. Die Corona-Pandemie, neue US-Sanktionen und die Krise im benachbart­en Libanon haben auch Syriens Wirtschaft schwer getroffen und an den Abgrund gedrückt. Immer wieder sind Berichte über Engpässe bei Lebensmitt­eln und Medikament­en zu hören. Besonders dramatisch ist die Lage für die mehr als sechs Millionen Vertrieben­en im eigenen Land.

Allein im Nordwesten Syriens, in der Region um die von Rebellen kontrollie­rte Stadt Idlib und deren Umland, leben rund 2,7 Millionen Menschen, die vor der Gewalt geflohen sind. Noch immer hausen die meisten von ihnen in Zelten in Lagern, andere in beschädigt­en Häusern. Für einige entstehen mittlerwei­le feste Unterkünft­e. Eine Wahl haben die Menschen kaum. Die wenigsten von ihnen wollen zurück in Gebiete unter Regierungs­kontrolle, aus Angst vor Verfolgung. Die Grenze zur Türkei ist seit Jahren geschlosse­n.

„Hier in unserer Gegend gibt es keine Jobs“, sagt Khaled Amash. „Die Leute haben kein Einkommen mehr.“Seine Familie baut Salat und Zwiebeln an, sie ernähren sich von Brot und Öl. Ein Sohn, der in die Türkei geflohen ist, schickt Geld über die Grenze.

Khaled Amash kennt die Geschichte­n von Bekannten, die es bis nach Deutschlan­d geschafft haben, auch wenn er keinen Kontakt zu ihnen hat. „Weil ich dagegen bin zu fliehen“, sagt er. „Ich will mein Land, meine Heimat, meinen Boden. Syrien zu verlassen, kam für mich nie infrage. Das ist noch immer unser Land. Wir gehören zu Syrien.“

Auch heute gingen die Bombardier­ungen weiter, sagt er. Die Front ist von Ehsim nicht weit entfernt von seinem Wohnort. Sollten die Kämpfe wieder in größerem Maßstab aufflammen, könnten sie schnell den Ort erreichen. Khaled Amash beteuert, er wolle lieber in der Heimat sterben als Reißaus nehmen: „Wir sind frei geboren worden, wir leben frei, wir werden frei sterben“, sagt er. „Der einzige, dem wir uns beugen, ist Gott.“

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FOTO: ANAS ALKHARBOUT­LI/DPA Der Lebensmitt­elverkäufe­r Khaled Amash mit seinen Kindern in seinem neuen Haus: Das alte wurde von Bomben der Regierung zerstört.

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