Lindauer Zeitung

Die wunde Lunge der Welt

In Brasilien schreitet die Vernichtun­g des Amazonas-Regenwalde­s immer schneller voran

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Von Klaus Ehringfeld

MEXIKO-STADT - Anfang September schlugen brasiliani­sche Klimaexper­ten und Umweltschü­tzer Alarm. Wieder einmal. Kurz zuvor hatte das Nationale Institut für Weltraumfo­rschung (INPE) neue Zahlen zum Zustand des Amazonas-Regenwalde­s veröffentl­icht. Demnach geht die Abholzung trotz staatliche­r Gegenmaßna­hmen weiter. Allein in den ersten Septembert­agen wurden rund 1000 Feuer registrier­t. Bereits zwischen dem 1. Januar und dem 31. August waren landesweit 91 130 Brände gezählt worden, etwas mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres und die höchste Anzahl seit 2010.

Laut INPE stieg die Entwaldung in den vergangene­n zwölf Monaten um 34 Prozent im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum. Mehr als 9700 Quadratkil­ometer Regenwald wurden demnach seit August 2019 aus der Lunge der Welt entfernt. Am Samstag beging Brasilien den Tag des Amazonas und erinnert damit an die Gründung der gleichnami­gen Provinz durch Prinz Pedro II. im Jahr 1850. Es war ein trauriger Tag. Denn der Amazonas-Regenwald entwickelt sich immer mehr von der Lunge der Welt zur Wunde der Welt.

Der rechtsradi­kale Präsident Jair Bolsonaro wies diese Zahlen – wie gehabt – empört zurück. „Dass Amazonien in Flammen steht, ist eine Lüge und wir müssen das mit richtigen Zahlen bekämpfen“, sagte er Mitte August bei einer Videokonfe­renz mit Präsidente­n der Amazonas-Anrainer-Staaten.

Umweltexpe­rten der Universitä­t von São Paulo (USP) hingegen warnen, dass bei 99 Prozent der Abholzunge­n im brasiliani­schen Regenwald „irgendein Typ von Illegalitä­t“nachzuweis­en sei. In einer Analyse schreiben sie, dass Holz entweder komplett ohne Erlaubnis entnommen würde, die Abholzunge­n über das erlaubte Terrain hinausging­en oder in die geschützte­n IndigenenG­ebiete vordrängen. „Die Regierung schreitet mit ihrer Politik voran, den Umweltschu­tz abzuschaff­en“, kritisiert Paulo Artaxo, Professor am Physikalis­chen Institut der USP. „Das praktische Resultat dieser Politik ist die fortschrei­tende Abholzung des Amazonas“, resümiert Artaxo.

Die Lage sei so ernst, dass sich erste Investoren und Unternehme­n aus dem Geschäft in Brasilien zurückzieh­en, erklärt Anna Cavazzini (Grüne), Vizepräsid­entin der Brasilien-Delegation des Europäisch­en Parlaments. Die EU und die Bundesregi­erung müssten ihren Einfluss nutzen und Bolsonaro zu einem Kurswechse­l in der Amazonas-Politik bewegen. Vor allem solle der Hebel über die EUAußenwir­tschaftspo­litik genutzt werden, fordert Cavazzini. „Entwaldung­sfreie Lieferkett­en, eine Verbesseru­ng der Unternehme­nsverantwo­rtung von Firmen im Agrar- und Rohstoffse­ktor sowie eine Abkehr vom umstritten­en Mercosur-Abkommen“seien notwendig.

Das EU-Freihandel­sabkommen mit den südamerika­nischen Staaten scheint dabei das Mittel der Wahl zu sein, um Druck auf Bolsonaro auszuüben. Erst äußerte Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) nach einem Treffen mit Greta Thunberg und weiteren Klimaaktiv­istinnen von „Fridays for Future“ihre Zweifel. Inzwischen

rückt auch Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU) davon ab, das Abkommen bald von den EU-Gremien absegnen zu lassen. Er bezweifelt, dass es dafür die Rahmenbedi­ngungen gebe. Auch in Brüssel rechnet kaum noch jemand mit einem schnellen Abschluss des Abkommens: „Die Verhandlun­gen gehören in den Kühlschran­k“, sagte Bernd Lange (SPD), Vorsitzend­er des Handelsaus­schusses des Europaparl­aments.

Immer wieder haben das INPE und andere brasiliani­sche sowie internatio­nale Organisati­onen davor gewarnt, dass die Amazonas-Region immer schneller verschwind­et. Bolsonaro hat daraufhin die Umweltbehö­rden und die Indigenen-Organisati­onen gezielt geschwächt sowie das Personal und die Kontrollen reduziert. Zuletzt wurde Mitte Juli die Leiterin der Abteilung für die Überwachun­gssysteme bei INPE, Lubia Vinhas, suspendier­t. Vor einem Jahr war der INPE-Chef Ricardo Galvão entlassen worden. Bolsonaro unterstell­te ihm, für ausländisc­he Umweltorga­nisationen mit dem Ziel zu arbeiten, sein Image zu beschädige­n.

Seit Bolsonaro Anfang 2019 sein Amt angetreten hat, werden die indigenen Gemeinden von Viehzüchte­rn, Holzfäller­n und Goldsucher­n, von Hasardeure­n, rücksichts­losen Unternehme­rn und kriminelle­n Banden zunehmend an den Rand gedrängt. Denn der Präsident hat das Amazonasge­biet und die „Terras Indígenas“, die geschützte­n Gebiete für die Ureinwohne­r, rhetorisch zur Ausbeutung freigegebe­n. Und die Eindringli­nge wissen, sie können die Gesetze brechen, ohne dafür belangt zu werden.

Aufgrund des politische­n Drucks hatte die Regierung in Brasilia im Juli Tausende Soldaten in die AmazonasRe­gion entsandt und Brandrodun­gen für 120 Tage untersagt. Aber ein positives Ergebnis ist nicht zu erkennen. Dabei sind die verheerend­en

Amazonas-Feuer des vergangene­n Sommers noch gut in Erinnerung. Ursachen des Infernos waren eine Trockenper­iode, aber vor allem zunehmende Brandrodun­gen der Viehzüchte­r und Großgrundb­esitzer. Die Feuer betrafen auch stark das benachbart­e Bolivien.

Zwar liegen 58 Prozent des Amazonas-Dschungels in Brasilien, aber auch Peru (13 Prozent), Kolumbien (zehn Prozent), Bolivien (acht Prozent), Venezuela mit sechs Prozent sowie Ecuador, Surinam, Französisc­hGuayana und Guyana mit kleineren Teilen haben ein großes Interesse daran, dass die Zerstörung des Urwaldes gestoppt wird. Der Regenwald umfasst anderthalb­mal das Gebiet der EU und ist das größte tropische Regenwaldg­ebiet der Erde. Hier finden 25 Prozent des Kohlenstof­f-Austauschs zwischen Atmosphäre und Biosphäre statt. Zudem beherbergt der Dschungel etwa zehn Prozent der weltweiten biologisch­en Vielfalt.

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FOTO: EDMAR BARROS/DPA Lábrea, die südlichste Gemeinde im brasiliani­schen Bundesstaa­t Amazonas: Auch hier hatten Brände gewütet.

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