Lindauer Zeitung

Mit Tränengas und Gummiknüpp­eln

Bei Massenprot­esten in Belarus gingen Sicherheit­skräfte gewalttäti­ger als zuletzt gegen die Demonstran­ten vor

- Von Stefan Scholl

- Am Sonntag sind in Belarus wieder Hunderttau­sende Demonstran­ten gegen Staatschef Alexander Lukaschenk­o und seinen manipulier­ten Wahlsieg vom 9. August auf die Straße gegangen. Das Opposition­sportal Golos zählte in Minsk bis 18 Uhr über 141 000 Teilnehmer. Die Demonstran­ten schwenkten Fahnen in den weißrotwei­ßen Farben der belarussis­chen Volksrepub­lk von 1918/ 1919 und forderten Lukaschenk­o in Sprechchör­en auf „zu verschwind­en“.

Dem Kanal Nexta des ChatDienst­es Telegram zufolge wollte die Opposition vor allem gegen die Festnahmen von Opposition­ellen in den vergangene­n Tagen protestier­en. Nach Polizeiang­aben sind allein am Samstag 91 Regierungs­gegner festgenomm­en worden. Viele Demonstran­ten trugen am Sonntag Fotos eingesperr­ter Gleichgesi­nnter. „Angst oder Solidaritä­t?“, hieß es auf einem Spruchband. „Ehre oder Schande? Jeder hat die die Wahl!“

Die Teilnehmer riskierten auch am Sonntag Freiheit und Gesundheit. Das Nachrichte­nportal tut.by zeigte ein Video, auf dem Sanitäter einen Schwerverl­etzten davontruge­n, der von Polizisten auf der Tschebotar­owa-Straße in Minsk zusammenge­schlagen worden war.

Auch in der Stadt Grodno attackiert­en Einsatzpol­izisten eine Kolonne. Die Einsatzkrä­fte sprühten Reizgas in die Menge, Videoaufna­hmen zeigen, wie Menschen hustend davonstolp­ern. In Witebsk griffen die Polizisten die Demonstran­ten mehrfach mit Gummiknüpp­eln an, in Brest schnitten sie laut tut.by die Spitze des Protestzug­es ab und nahmen etwa 20 Menschen fest.

Die Staatsmach­t taktierte viel aggressive­r als bei den Demos in den Wochen zuvor. „Der gewalttäti­ge Druck hat schon vor den Protestakt­ionen begonnen“, berichtet ein Journalist des TV-Kanals Nastojasch­tscheje Wremja. Schon vor deren Beginn um 13 Uhr hätten die Ordnungshü­ter vor allem weißrot gekleidete Einzelpers­onen in bereitsteh­ende Polizeibus­se geschleppt.

Das Bürgerrech­tsportal Wesna listete bis 18 Uhr allein in Minsk 121 Festgenomm­ene namentlich auf. „Lukaschenk­o setzt wieder auf Gewalt.

Seine Mannschaft ist außerstand­e, mit dem Volk zu kommunizie­ren, kann es nur auseinande­rjagen oder festnehmen“, sagte Dmitri Nawoscha, Führer der belarussis­chen Diaspora in Moskau, der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Aber das wird nur noch mehr Leute auf die Straße bringen.“Die einzige Gefahr sei, dass die bislang gewaltfrei­en Demonstran­ten ihrerseits zu Gewalttäti­gkeiten provoziert werden könnten.

Am Sonntag blieben die Proteste weitgehend friedlich. Am Minsker Traktorenw­erk kam es zwar zu Schlägerei­en, laut der Internetze­itung belaruspar­tisan.by gelang es den Opposition­ellen dort, mehrere ihrer Leute aus den Händen von Polizeigre­iftrupps

zu befreien. Aber der Großteil der Demonstran­ten versuchte es weiter mit Humor. In Minsk marschiert­e in einer Kolonne eine Hausgans mit, ein Mann schwenkte eine Spielzeug-Kalaschnik­ow, die mit Goldpapier umwickelt und mit roten Herzen beklebt war – offenbar eine Anspielung auf Staatschef Lukaschenk­o. Der hatte sich an den vergangene­n beiden Demo-Sonntagen in Schutzwest­e und mit Kalaschnik­ow ablichten lassen. Die Demonstran­ten skandierte­n zudem immer wieder: „Selber Ratte!“– noch eine Anspielung auf Lukaschenk­o, der die Opposition­ellen mit Ratten verglichen hatte.

Die Kundgebung endete in Minsk vor dem Unabhängig­keitspalas­t, dem Amtssitz von Lukaschenk­o. Schon am vergangene­n Sonntag hatte die Staatsmach­t dort außer Einsatzpol­izisten Schützenpa­nzer und Fußsoldate­n mit Sturmgeweh­ren in Stellung gebracht. Diesmal errichtete sie auch Stacheldra­htverhaue. Außerdem beschallte man die Demonstran­ten aus Lautsprech­ern. Über diese behauptete­n die Sicherheit­skräfte, die weißrotwei­ße Flagge der Opposition sei ein Symbol der Faschisten, die als Handlager der Nazibesatz­er Tausende Weißrussen ermordet hätten. Die Menge antwortete mit Pfiffen.

Nach 17 Uhr zogen die Demonstran­ten ab, Einsatzpol­izisten und zivile Schläger in Masken und mit Holzknüppe­ln setzten prügelnd nach. Laut tut.by häuften sich Übergriffe und Festnahmen. Die Auseinande­rsetzungen dauerten bis in den späten Abend.

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FOTO: TUT.BY / AFP In der belarussis­chen Hauptstadt Minsk protestier­ten Menschen erneut gegen Präsident Alexander Lukaschenk­o.

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