Mit Tränengas und Gummiknüppeln
Bei Massenprotesten in Belarus gingen Sicherheitskräfte gewalttätiger als zuletzt gegen die Demonstranten vor
- Am Sonntag sind in Belarus wieder Hunderttausende Demonstranten gegen Staatschef Alexander Lukaschenko und seinen manipulierten Wahlsieg vom 9. August auf die Straße gegangen. Das Oppositionsportal Golos zählte in Minsk bis 18 Uhr über 141 000 Teilnehmer. Die Demonstranten schwenkten Fahnen in den weißrotweißen Farben der belarussischen Volksrepublk von 1918/ 1919 und forderten Lukaschenko in Sprechchören auf „zu verschwinden“.
Dem Kanal Nexta des ChatDienstes Telegram zufolge wollte die Opposition vor allem gegen die Festnahmen von Oppositionellen in den vergangenen Tagen protestieren. Nach Polizeiangaben sind allein am Samstag 91 Regierungsgegner festgenommen worden. Viele Demonstranten trugen am Sonntag Fotos eingesperrter Gleichgesinnter. „Angst oder Solidarität?“, hieß es auf einem Spruchband. „Ehre oder Schande? Jeder hat die die Wahl!“
Die Teilnehmer riskierten auch am Sonntag Freiheit und Gesundheit. Das Nachrichtenportal tut.by zeigte ein Video, auf dem Sanitäter einen Schwerverletzten davontrugen, der von Polizisten auf der Tschebotarowa-Straße in Minsk zusammengeschlagen worden war.
Auch in der Stadt Grodno attackierten Einsatzpolizisten eine Kolonne. Die Einsatzkräfte sprühten Reizgas in die Menge, Videoaufnahmen zeigen, wie Menschen hustend davonstolpern. In Witebsk griffen die Polizisten die Demonstranten mehrfach mit Gummiknüppeln an, in Brest schnitten sie laut tut.by die Spitze des Protestzuges ab und nahmen etwa 20 Menschen fest.
Die Staatsmacht taktierte viel aggressiver als bei den Demos in den Wochen zuvor. „Der gewalttätige Druck hat schon vor den Protestaktionen begonnen“, berichtet ein Journalist des TV-Kanals Nastojaschtscheje Wremja. Schon vor deren Beginn um 13 Uhr hätten die Ordnungshüter vor allem weißrot gekleidete Einzelpersonen in bereitstehende Polizeibusse geschleppt.
Das Bürgerrechtsportal Wesna listete bis 18 Uhr allein in Minsk 121 Festgenommene namentlich auf. „Lukaschenko setzt wieder auf Gewalt.
Seine Mannschaft ist außerstande, mit dem Volk zu kommunizieren, kann es nur auseinanderjagen oder festnehmen“, sagte Dmitri Nawoscha, Führer der belarussischen Diaspora in Moskau, der „Schwäbischen Zeitung“. „Aber das wird nur noch mehr Leute auf die Straße bringen.“Die einzige Gefahr sei, dass die bislang gewaltfreien Demonstranten ihrerseits zu Gewalttätigkeiten provoziert werden könnten.
Am Sonntag blieben die Proteste weitgehend friedlich. Am Minsker Traktorenwerk kam es zwar zu Schlägereien, laut der Internetzeitung belaruspartisan.by gelang es den Oppositionellen dort, mehrere ihrer Leute aus den Händen von Polizeigreiftrupps
zu befreien. Aber der Großteil der Demonstranten versuchte es weiter mit Humor. In Minsk marschierte in einer Kolonne eine Hausgans mit, ein Mann schwenkte eine Spielzeug-Kalaschnikow, die mit Goldpapier umwickelt und mit roten Herzen beklebt war – offenbar eine Anspielung auf Staatschef Lukaschenko. Der hatte sich an den vergangenen beiden Demo-Sonntagen in Schutzweste und mit Kalaschnikow ablichten lassen. Die Demonstranten skandierten zudem immer wieder: „Selber Ratte!“– noch eine Anspielung auf Lukaschenko, der die Oppositionellen mit Ratten verglichen hatte.
Die Kundgebung endete in Minsk vor dem Unabhängigkeitspalast, dem Amtssitz von Lukaschenko. Schon am vergangenen Sonntag hatte die Staatsmacht dort außer Einsatzpolizisten Schützenpanzer und Fußsoldaten mit Sturmgewehren in Stellung gebracht. Diesmal errichtete sie auch Stacheldrahtverhaue. Außerdem beschallte man die Demonstranten aus Lautsprechern. Über diese behaupteten die Sicherheitskräfte, die weißrotweiße Flagge der Opposition sei ein Symbol der Faschisten, die als Handlager der Nazibesatzer Tausende Weißrussen ermordet hätten. Die Menge antwortete mit Pfiffen.
Nach 17 Uhr zogen die Demonstranten ab, Einsatzpolizisten und zivile Schläger in Masken und mit Holzknüppeln setzten prügelnd nach. Laut tut.by häuften sich Übergriffe und Festnahmen. Die Auseinandersetzungen dauerten bis in den späten Abend.