Vom Lingenhölin überfallen
Zum Europäischen Tag jüdischer Kultur: Was der Bote Feistle Levi 1764 erlebte
sprechen oder sich vorzustellen. Da Feistle Levi aber von zu engen Schuhen an seinen Füßen heftig geplagt wurde, konnte er nicht schnell genug laufen. Jacob Lingenhölin im braunen Leinenkittel bot deshalb der Frau an, ihr den Korb nach Langenargen zu tragen und mit ihr etwas vorauszugehen. Der Ansbacher Georg Horn lief derweil zusammen mit Feistle Levi etwas langsamer des Weges.
Als Feistle Levi etwas später zusammen mit Georg Horn im Wäldchen kurz vor dem Steg über die Argen angekommen war, stand dort Jacob Lingenhölin, nun ohne die Langenargenerin und deren Brotkorb. Dafür hatte er einen schwarzen Knotenstock in der Hand. Mit diesem hielt er Feistle Levi bestimmend an und fragte diesen, ob er keine silbernen Schnallen oder Ketten kaufen wolle. Doch Levi antwortete ihm, „er sei ein armer Jud, habe kein Geld, sondern gehe nur den Almosen nach“und wolle weitergehen. Daraufhin, so Feistle Levi acht Monate später in seiner Zeugenvernehmung, habe der Mann im Leinenkittel, besagter Jacob Lingenhölin aus Schachen, ihm von hinten den Knotenstock derart hart auf die Wirbelsäule geschlagen, dass er heftig blutend auf den Boden gesunken sei. Nun wollte ihm Lingenhölin sein Säckchen wegnehmen. Doch Feist Levi habe den Sack nicht hergegeben, woraufhin ihn Lingenhölin noch mehrmals geschlagen habe.
Levi bat ihn nun laut schreiend, ihn, den Vater von fünf Kindern doch zu verschonen. Daraufhin habe Lingenhölin laut gepfiffen und sei davongesprungen. Sieben Monate später berichtete Lingenhölin im Verhör selbst, dass er befürchtet habe, das laute Schreien und Wehklagen Levis hätte die Waldarbeiter in der Nähe dazu bringen können, hinzuzueilen.
Feist Levi lief nun blutend weiter nach Langenargen, wo er gegenüber den Zollbeamten sowie dem Obervogt den Überfall anzeigte. Letzterer aber antwortete ihm, da die beiden Männer nicht gesehen worden seien, könne er Feist Levi auch nicht helfen. Die beiden Wegelagerer Lingenhölin und Horn waren nach Überqueren der Argen nach rechts Richtung Tettnanger Wald und Gießenbruck abgebogen. Erst der Zöllner in Fischbach westlich von Buchhorn (heute Friedrichshafen) gab dem geschundenen Levi Brandwein zur Wunddesinfektion und dessen Frau wusch ihm sein blutiges Halstuch. Im folgenden Herbst waren Jacob Lingenhölin, der „kleine Bub“sowie acht weitere Mitglieder eines Lindauer Diebesclans, vier Frauen und fünf Männer rund um einen Teil der Familien Lingenhölin in Schachen, Streitelsfingen sowie im Gasthaus am Langenweg, festgenommen und verhört worden. Auf Menschen jüdischen Glaubens sei Jacob Lingenhölin gar mehrmals „auf- und losgegangen“. Dazu zählten ein Übergriff im „Laiblachholz“bei Unterhochsteg, einer im Tettnanger Wald sowie eben jener Überfall auf Feist Levi bei der Langenargener Brücke. Menschen jüdischen Glaubens zählten damals zu einer von der christlichen Mehrheit gesellschaftlich ausgegrenzten Minderheit. Ein beachtlicher Teil dieser Menschen war infolgedessen gezwungen, als Händler, Hausierer oder eben Bettler häufig unterwegs zu sein.
Feist Levi erhielt für die erlittene Körperverletzung keine Entschädigung. Doch wurde Jacob Lingenhölin als ein führender Kopf der „BleicheDiebe“1765 nach erhaltenen Schlägen mit einer Rute am Lindauer Pranger „auf ewig“aus dem Gebiet Lindaus verwiesen.
Der „Europäische Tag der jüdischen Kultur“steht 2020 unter dem Motto „Jüdische Reisen“. Es gibt ihn seit 1999.