Afghanistans Schicksalsfrage
Verhandlungen mit den Taliban könnten bald beginnen
Über vier Jahrzehnte mussten die Afghanen Blutvergießen und Brutalität ertragen. Der Konflikt gilt als tödlichster der Welt. Nun aber keimt Hoffnung auf: Erstmals wollen sich Taliban und Vertreter der Regierung in der katarischen Hauptstadt Doha an einen Tisch setzen. Beginnen sollen die Friedensgespräche in den kommenden Tagen.
Ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem die Vereinigten Staaten mit den Taliban ein Abkommen unterzeichnet hatten. Die USA wollen ihre Soldaten abziehen, im Gegenzug sollen die Taliban garantieren, dass von Afghanistan keine Terrorgefahr mehr ausgeht. Der Deal verpflichtete die Islamisten auch zur Aufnahme innerafghanischer Friedensgespräche. In den Verhandlungen geht es aber um weit mehr als nur ein Ende der Gewalt. Am Ende könnte ein Land mit einem neuen politischen System entstehen. So fordern die Taliban eine rein islamische Regierung, ohne zu definieren, wie sich diese von der derzeitigen Islamischen Republik Afghanistan unterscheiden soll. Wahlen lehnten sie ab, die Regierung hingegen hat die Republik als unverhandelbar erklärt.
Das Verhandlungsteam der Regierung hat einen Waffenstillstand mit den Taliban zur obersten Priorität gemacht. Masum Staneksai, treuer Anhänger der Regierung unter Präsident Aschraf Ghani, Ex-Geheimdienstchef und Friedensdiplomat, führt das Verhandlungsteam aus Kabul.
Die Positionen der Islamisten leitet Scheich Maulawi Abdul Hakim, der spät und überraschend als Verhandlungsführer der Talibandelegation angekündigt wurde. Ihre politische Agenda bleibt schleierhaft. Während die Islamisten ihre friedlichen Absichten erklären, herrscht intern eine andere Sprache. Der Abzug der NatoSoldaten nach dem Abkommen mit den USA wird vor den Kämpfern etwa als Sieg über eine Besatzungsmacht gefeiert, Afghanistans Regierung wurde bis zuletzt oft noch als „Marionette des Westens“bezeichnet. Dass die Gespräche nun beginnen, ist das wichtigste Zugeständnis, dass die Amerikaner den Taliban im Gegenzug für ihren Abzug abringen konnten.
Deutschland und die anderen Nato-Partner der USA beobachten die Entwicklungen mit einer Mischung aus vorsichtigem Optimismus und Sorge. Auf der einen Seite hoffen sie, dass die von den Amerikanern angestoßenen Entwicklungen wirklich zu einem nachhaltigen Friedensprozess führen. Auf der anderen Seite gibt es weiter die Befürchtung, dass es USPräsident Donald Trump bei seinem Engagement am Ende nur darum geht, noch vor der US-Präsidentschaftswahl im November einen vollständigen Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan anordnen zu können – um sein Versprechen zu erfüllen, den längsten Krieg in der Geschichte Amerikas zu beenden.
Sollten sich die Amerikaner komplett zurückziehen, müsste höchstwahrscheinlich auch der Nato-Ausbildungseinsatz in Afghanistan sofort beendet werden. Auch das deutsche Einsatzkontingent im Norden Afghanistans ist auf die Unterstützung der US-Streitkräfte angewiesen. In der Nato besteht die Sorge, dass es im schlimmsten Falle eines Rückzugs schnell wieder zu einer Destabilisierung des Landes und zu Rückschritten bei Demokratie und Menschenrechten kommen könnte. Das fast zwei Jahrzehnte lange Nato-Engagement in Afghanistan könnte so umsonst gewesen sein – auch für die Bundeswehr, die seit Beginn des Einsatzes bereits 59 Soldaten verloren hat.
Beobachter sagen, eine Konfrontation mit der Staatengemeinschaft läge nicht im Interesse der Taliban, um nicht die notwendige Entwicklungshilfe zu gefährden. Experten befürchten, dass in den Verhandlungen das Mitspracherecht von Minderheiten zu kurz kommt. „Man sieht sehr viele Lippenbekenntnisse bisher“, sagt Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network. „Meine größte Sorge ist, dass die demokratischen Elemente zurückgedrängt werden und Afghanistan noch konservativer, noch islamischer wird.“Frauenrechtler und Aktivistinnen in Kabul fürchten, dass ein Deal mit den Taliban zu ihren Lasten geht.
Die Grundlage für einen Abzug der Amerikaner soll in den kommenden Wochen gelegt werden. Ein Vertreter der US-Regierung unterrichtete die Bundesregierung am 8. August darüber, „dass die USA bis Ende November 2020 eine Truppenreduzierung in Afghanistan auf knapp unter 5000 Soldatinnen und Soldaten durchführen werden“. Zuletzt waren noch etwa 8600 US-Soldaten in dem Land.
Auf das Engagement der Bundeswehr im Nato-Ausbildungseinsatz Resolute Support soll die weitere Reduzierung des US-Truppenpräsenz vorerst allerdings keine Auswirkungen haben. Aus Sicht der Bundesregierung könne die Bundeswehr damit ihr Engagement im Norden des Landes ohne entscheidende Einschränkungen fortführen. Aber auch der Rückzug wird schon vorbereitet. Dazu wurde eine Rückverlegungsorganisation aufgebaut. Sie wird von November an einsatzbereit sein und kann Feldlager aboder umbauen sowie Material für den Rücktransport bereit machen.
Für den Fall, dass der Friedensprozess in Gang kommt, hat Washington den Taliban in Aussicht gestellt, dass die US- und Nato-Truppen bis Ende April 2021 aus Afghanistan abgezogen sind. Doch auch wenn es dazu kommt, die Terrorgefahr wird vermutlich bleiben, warnen Experten. Sie gehen davon aus, dass Gruppen wie die Terrormiliz „Islamischer Staat“Zulauf von Talibankämpfern erhalten könnten, die eine zivile Einigung mit der Regierung ablehnen.