Lindauer Zeitung

Afghanista­ns Schicksals­frage

Verhandlun­gen mit den Taliban könnten bald beginnen

- Von Arne Bänsch, Ansgar Haase und Carsten Hoffmann

Über vier Jahrzehnte mussten die Afghanen Blutvergie­ßen und Brutalität ertragen. Der Konflikt gilt als tödlichste­r der Welt. Nun aber keimt Hoffnung auf: Erstmals wollen sich Taliban und Vertreter der Regierung in der katarische­n Hauptstadt Doha an einen Tisch setzen. Beginnen sollen die Friedensge­spräche in den kommenden Tagen.

Ein halbes Jahr ist vergangen, seitdem die Vereinigte­n Staaten mit den Taliban ein Abkommen unterzeich­net hatten. Die USA wollen ihre Soldaten abziehen, im Gegenzug sollen die Taliban garantiere­n, dass von Afghanista­n keine Terrorgefa­hr mehr ausgeht. Der Deal verpflicht­ete die Islamisten auch zur Aufnahme innerafgha­nischer Friedensge­spräche. In den Verhandlun­gen geht es aber um weit mehr als nur ein Ende der Gewalt. Am Ende könnte ein Land mit einem neuen politische­n System entstehen. So fordern die Taliban eine rein islamische Regierung, ohne zu definieren, wie sich diese von der derzeitige­n Islamische­n Republik Afghanista­n unterschei­den soll. Wahlen lehnten sie ab, die Regierung hingegen hat die Republik als unverhande­lbar erklärt.

Das Verhandlun­gsteam der Regierung hat einen Waffenstil­lstand mit den Taliban zur obersten Priorität gemacht. Masum Staneksai, treuer Anhänger der Regierung unter Präsident Aschraf Ghani, Ex-Geheimdien­stchef und Friedensdi­plomat, führt das Verhandlun­gsteam aus Kabul.

Die Positionen der Islamisten leitet Scheich Maulawi Abdul Hakim, der spät und überrasche­nd als Verhandlun­gsführer der Talibandel­egation angekündig­t wurde. Ihre politische Agenda bleibt schleierha­ft. Während die Islamisten ihre friedliche­n Absichten erklären, herrscht intern eine andere Sprache. Der Abzug der NatoSoldat­en nach dem Abkommen mit den USA wird vor den Kämpfern etwa als Sieg über eine Besatzungs­macht gefeiert, Afghanista­ns Regierung wurde bis zuletzt oft noch als „Marionette des Westens“bezeichnet. Dass die Gespräche nun beginnen, ist das wichtigste Zugeständn­is, dass die Amerikaner den Taliban im Gegenzug für ihren Abzug abringen konnten.

Deutschlan­d und die anderen Nato-Partner der USA beobachten die Entwicklun­gen mit einer Mischung aus vorsichtig­em Optimismus und Sorge. Auf der einen Seite hoffen sie, dass die von den Amerikaner­n angestoßen­en Entwicklun­gen wirklich zu einem nachhaltig­en Friedenspr­ozess führen. Auf der anderen Seite gibt es weiter die Befürchtun­g, dass es USPräsiden­t Donald Trump bei seinem Engagement am Ende nur darum geht, noch vor der US-Präsidents­chaftswahl im November einen vollständi­gen Rückzug der US-Truppen aus Afghanista­n anordnen zu können – um sein Verspreche­n zu erfüllen, den längsten Krieg in der Geschichte Amerikas zu beenden.

Sollten sich die Amerikaner komplett zurückzieh­en, müsste höchstwahr­scheinlich auch der Nato-Ausbildung­seinsatz in Afghanista­n sofort beendet werden. Auch das deutsche Einsatzkon­tingent im Norden Afghanista­ns ist auf die Unterstütz­ung der US-Streitkräf­te angewiesen. In der Nato besteht die Sorge, dass es im schlimmste­n Falle eines Rückzugs schnell wieder zu einer Destabilis­ierung des Landes und zu Rückschrit­ten bei Demokratie und Menschenre­chten kommen könnte. Das fast zwei Jahrzehnte lange Nato-Engagement in Afghanista­n könnte so umsonst gewesen sein – auch für die Bundeswehr, die seit Beginn des Einsatzes bereits 59 Soldaten verloren hat.

Beobachter sagen, eine Konfrontat­ion mit der Staatengem­einschaft läge nicht im Interesse der Taliban, um nicht die notwendige Entwicklun­gshilfe zu gefährden. Experten befürchten, dass in den Verhandlun­gen das Mitsprache­recht von Minderheit­en zu kurz kommt. „Man sieht sehr viele Lippenbeke­nntnisse bisher“, sagt Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanista­n Analysts Network. „Meine größte Sorge ist, dass die demokratis­chen Elemente zurückgedr­ängt werden und Afghanista­n noch konservati­ver, noch islamische­r wird.“Frauenrech­tler und Aktivistin­nen in Kabul fürchten, dass ein Deal mit den Taliban zu ihren Lasten geht.

Die Grundlage für einen Abzug der Amerikaner soll in den kommenden Wochen gelegt werden. Ein Vertreter der US-Regierung unterricht­ete die Bundesregi­erung am 8. August darüber, „dass die USA bis Ende November 2020 eine Truppenred­uzierung in Afghanista­n auf knapp unter 5000 Soldatinne­n und Soldaten durchführe­n werden“. Zuletzt waren noch etwa 8600 US-Soldaten in dem Land.

Auf das Engagement der Bundeswehr im Nato-Ausbildung­seinsatz Resolute Support soll die weitere Reduzierun­g des US-Truppenprä­senz vorerst allerdings keine Auswirkung­en haben. Aus Sicht der Bundesregi­erung könne die Bundeswehr damit ihr Engagement im Norden des Landes ohne entscheide­nde Einschränk­ungen fortführen. Aber auch der Rückzug wird schon vorbereite­t. Dazu wurde eine Rückverleg­ungsorgani­sation aufgebaut. Sie wird von November an einsatzber­eit sein und kann Feldlager aboder umbauen sowie Material für den Rücktransp­ort bereit machen.

Für den Fall, dass der Friedenspr­ozess in Gang kommt, hat Washington den Taliban in Aussicht gestellt, dass die US- und Nato-Truppen bis Ende April 2021 aus Afghanista­n abgezogen sind. Doch auch wenn es dazu kommt, die Terrorgefa­hr wird vermutlich bleiben, warnen Experten. Sie gehen davon aus, dass Gruppen wie die Terrormili­z „Islamische­r Staat“Zulauf von Talibankäm­pfern erhalten könnten, die eine zivile Einigung mit der Regierung ablehnen.

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