„Es ist versuchter Massenmord“
Die Angst vor Corona – Romy Bornscheuer über die Stimmung im Flüchtlingslager Moria vor dem Brand
- „Wir wachen jeden Morgen auf, und es ist noch schlimmer als am Vortag“, sagt Romy Bornscheuer. Die Lindauerin, die seit Juni für Healthbridge Medical auf Lesbos im Flüchtlingslager Moria arbeitet, wusste noch nicht, wie recht sie mit dieser Äußerung haben sollte. Denn jetzt ist das eingetreten, was die Medizinstudentin und Gründerin des Netzwerkes „Europeans for Humanity“schon lange befürchtet hat. Es verbreitete sich nicht nur das Coronavirus in dem völlig überfüllten Lager, mit dem Brand Mittwochnacht kam es zu einer Katastrophe (näheres dazu siehe Politik). LZ-Redakteurin Yvonne Roither hat sich vor Ausbruch des Brandes mit der 22-Jährigen über die Zustände im Lager unterhalten.
Corona ist nun endgültig in Moria angekommen. Wie viele Erkrankte gibt es inzwischen?
Das ist ganz schwer zu sagen. Nach offiziellen Angaben waren es am Dienstag 35, es sind aber hundertprozentig sehr, sehr viel mehr. Es gab eine Reihentestung, deren Ergebnisse aber noch nicht offiziell sind. Außerdem wird bei Symptomen nicht unbedingt getestet.
Wie ist die Situation im Lager?
Die Situation im Lager ist wirklich schlimm. Es wurde trotz aller Aufrufe niemand evakuiert, und es wurden auch keine vorsorgenden Maßnahwurde men geschaffen. Die Menschen sind völlig panisch. Ich werde hundertmal am Tag gefragt, ob sie alle sterben werden. Menschen kommen weinend zu mir, brechen zusammen, weil sie Angst haben. Es gibt extrem viele Menschen mit chronischen Erkrankungen, die jetzt nicht mehr behandelt werden, weil alles geschlossen hat. Die Menschen werden nicht wirklich darüber aufgeklärt, was passiert. Die Regierung macht nichts, außer rund 800 000 Euro dafür auszugeben, dass eine Mauer um das Camp gebaut wird, damit das Virus dieses nicht verlässt. Es ist eine Massenquarantäne von 13 000 Menschen unter schlimmsten Zuständen. Es ist weit entfernt von dem, was wir uns vorstellen konnten.
Wie ist die medizinische Versorgung?
Es gibt ja nur ein Krankenhaus auf der Insel, und das ist schon mit der einheimischen Bevölkerung komplett überlastet. Dort gibt es keine OPs und Aufnahmen mehr. Und im Lager hat eine medizinische Einrichtung nach der anderen zugemacht.
Was wird zum Schutz der Flüchtlinge unternommen?
von jetzt auf gleich eingestellt. Wir haben nicht die richtige Schutzausrüstung und bei weitem nicht die Kapazitäten, um den Menschen zu helfen. Es gibt weiterhin keine Masken, kein fließendes Wasser,
keine Duschen und Waschbecken. Die Menschen müssen immer noch zu Hunderten stundenlang anstehen, um etwas Wasser und Brot zu bekommen. Es ist unmöglich, sich an Hygiene- und Abstandsregeln zu halten. Wenn du überleben willst, musst du dich anstellen, ob Du nun zum Arzt musst oder Brot brauchst.
Werden Erkrankte isoliert?
Ja, aber diese Isolierung wird von unqualifiziertem, nicht medizinischem Personal betrieben. Ohne die notwendige Schutzausrüstung, unter den schlimmsten Umständen. Leute, die Symptome aufweisen, werden mit ihren Familien isoliert, indem sie in Einzelboxen gesteckt werden. Da gibt es keine professionelle medizinische Überwachung oder irgendwas in diese Richtung.
13 000 Stühle für die Geflüchteten von Moria vor dem Berliner Reichstagsgebäude: Was halten sie von der spektakulären Protestaktion?
Wir von „Europeans for Humanity“haben uns sehr gefreut, dass die Aufmerksamkeit wieder auf das Thema gelenkt wurde. Denn unsere Aufrufe interessieren niemanden mehr. Für mich ist das, was in Moria passiert, versuchter Massenmord, es wird nichts von der EU oder Griechenland unternommen, um Corona einzudämmen oder die Menschen zu schützen. Stattdessen wird eine
Massenquarantäne für 13 000 Menschen verhängt, die das Ganze noch schlimmer macht. Es gibt keine Möglichkeit für die Menschen, das Camp zu verlasen, zur Apotheke zu gehen, zu einem Arzt außerhalb des Camps zu gehen. Sie sind gezwungen, in dem völlig überfüllten Lager auszuharren, ohne darüber aufgeklärt zu werden, was dieses Virus macht. Es ist unfassbar, dass so etwas im Jahr 2020 in Europa möglich ist. Das ist systematischer Rassismus, Menschen werden einfach weggesperrt.
Was kann der Einzelne dagegen tun?
Ich bin ehrlich gesagt völlig verzweifelt. Ich kann auch nichts empfehlen, was man praktisch gegen diese Zustände tun kann. Die NGOs sind überfordert, Geld- und Sachspenden sind ganz schlecht koordiniert. Was wir tun können, ist immer wieder darüber zu sprechen und Aufmerksamkeit zu schaffen wie beispielsweise über die Stuhlaktion. Wir müssen schnell großen Druck auf unsere Politik erzeugen. Diese Camps müssen schnell evakuiert werden, anders ist diesen Menschen nicht mehr zu helfen. Wenn es nicht dafür schon zu spät ist.
Einen ausführlichen Bericht und die Hintergründe zum Brand im Flüchtlingslager Moria finden Sie auf