„Christlich, liberal, sozial und konservativ“
75 Jahre nach Gründung der CSU erklärt Theo Waigel, was die Partei so unverwechselbar macht
- Seit 75 Jahren ist die bayrische Christlich-Soziale Union fester Bestandteil der politischen Landschaft der Bundesrepublik. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann bezeichnete die CSU im vergangenen Jahr sogar als „eine der genialsten Erfindungen“in Bayern. Zum Parteijubiläum spricht Ralf Müller mit dem CSU-Ehrenvorsitzenden Theo Waigel über das Erfolgsgeheimnis und die größten Probleme der Christsozialen.
Herr Waigel, was wünschen Sie als Ehrenvorsitzender der CSU Ihrer Partei für die nächsten 75 Jahre?
Erst einmal wünsche ich ihr für die nächsten 25 Jahre Mut bis zum 100. Geburtstag, Mut zur Zukunft. Und dass sie sich wie in den letzten 75 Jahren im politischen Leben Bayerns, Deutschlands und Europas einen unverwechselbaren Platz sichert und gestaltet.
Woran machen Sie diese Unverwechselbarkeit fest? Was ist das Erfolgsgeheimnis der CSU?
Es ist ihr gelungen, christliches, liberales, soziales und konservatives Gedankengut zu vereinen. Wie keine andere Partei ist es ihr gelungen, alle Volksschichten – den Arbeiter genauso wie den Unternehmer, den Bauern genauso wie den Beamten, den Handwerker genauso wie den Handelstreibenden – aufzunehmen, die Gegensätze zu überbrücken und trotzdem zu einer entschlossenen Führungskraft zu werden. Das ist eine einmalige Leistung, die die CSU so wie keine andere Partei in Europa vollbracht hat, wobei ihr natürlich ihre regionale Begrenztheit auf Bayern zugute gekommen ist.
Die Gesellschaft wird immer differenzierter, kleinteiliger, gegensätzlicher. Kann es denn da noch gelingen, die immer größeren Gegensätze zu überbrücken?
Die Aufgabe wird schwieriger und unübersichtlicher. Wir leben in einer neuen Ungewissheit. Die Krise der christlichen Kirchen hat zugenommen. Das wirkt sich auch auf die CSU aus. Welt und Gesellschaft sind individueller geworden. Die Autonomie der Menschen ist größer geworden. Sie können sich mit den neuen Medien viel aktiver bewegen und ohne Widerspruch durch das Netz twittern und tingeln. Das ist eine neue Herausforderung, die nur vergleichbar ist mit der Erfindung des Buchdrucks, mit der Aufklärung und der Industrialisierung der Welt. Dieser neuen Herausforderung muss man sich stellen, ohne dass man alte Werte und die Verbindung zur Heimat kappt. Beides zu verbinden ist eine hohe Kunst, aber das war in den 75 Jahren ihres Bestehens immer die Herausforderung für die CSU.
Die CSU hat Probleme in den Großstädten – einen Münchner Ingenieur verbindet nicht mehr viel mit einem Landwirt in der Oberpfalz. Was kann die Partei hier tun?
Das ist wahr. Aber vor einer ähnlichen Frage stand die CSU bereits einmal in den 50er- und 60er-Jahren. Damals hatten wir große Probleme. Die SPD war dominierend. Es ist erst langsam gelungen, in den Großstädten, vor allem in München, aufzuholen und sogar Direktmandate zu gewinnen. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern das ist ein mühseliger Prozess, um herauszufinden, was denken, was spüren junge Menschen vor allem in den urbanen Räumen. Da hat im Moment die CSU einen Nachholbedarf, weil sie den Kontakt zur Anhängerschaft nur teilweise halten konnte. In einigen Städten gelang dies, zum Beispiel in Nürnberg und in Augsburg, in München hat das bisher nicht geklappt. Es ist schwierig, die ländlichen Strukturen, die heute gar nicht mehr so ländlich geprägt sind wie früher, mit der modernen Lebensform in der Stadt unter einen Hut zu bringen. Das ist eine riesige Herausforderung, bei der vor allem auf die Junge Union viel zukommt.
Wenn man die Wahlergebnisse der CSU betrachtet, dann ist sie von mehr als 60 Prozent bei einer Landtagswahl mit Ministerpräsident Alfons Goppel über die langjährige Messlatte „50 plus X“jetzt so weit gekommen, dass schon eine Vier vor dem Wahlergebnis bejubelt wird. Sie mussten sich noch für ein Wahlergebnis von 47 Prozent ...
47,7 Prozent ...
... Kritik anhören. Da ist doch absehbar, wo es hingeht, oder?
Das ist eine Normalität, die gar nicht neu ist und die auch in den 40er-, 50er- und 60er-Jahren da war. Als Goppel zum ersten Mal 1962 antrat, hat er auch nur 47,5 Prozent geholt. Wir bewegen uns heute, jedenfalls was die CSU anbelangt, in einem Parteienfeld wie damals. Was sich geändert hat, ist die Vielfalt der Parteien, unterschiedliche Richtungen und die relative Schwäche der SPD. Die Polarisierung zwischen CSU und SPD ist weggefallen. Bei dieser Vielfalt ist es nur schwer möglich, über 50 Prozent zu kommen. Aber 40 bis 50 Prozent entsprechen dem, womit die CSU in den 50er- und 60er-Jahren sehr zufrieden war.
Was fehlt Ihnen an der heutigen CSU? Was vermissen Sie?
Neben der starken Kompetenz auf Landesebene müsste sie sich noch stärker in der Außen- und äußeren Sicherheitspolitik positionieren. Die CSU hat von den 50er bis in die 90erJahre hinein bundes- und europapolitisch und in der übrigen Welt ihre Rolle gespielt, auch im internationalen Parteigefüge. Das kommt mir im Moment etwas zu kurz.
Würden Sie heute noch Politik in herausgehobener Position machen wollen?
Ich würde es mir zutrauen, wenn ich 40 Jahre jünger wäre, aber für mich gilt, was Samuel Beckett im letzten Band sagen lässt: „Das also waren die besten Jahre, als noch Hoffnung bestand, aber ich sehne mich nicht zurück.“Das gilt auch für mich: Ich sehne mich nicht zurück und betrachte mit großem Interesse aus einer gewissen Distanz das Geschehen, dränge mich niemandem auf, versage aber dem, der es wünscht, den Rat nicht.