Lindauer Zeitung

Fast die Hälfte Frankreich­s ist Risikogebi­et

Die Regierung warnt vor der Situation in Marseille und Bordeaux – Neue Regeln für Tests angekündig­t

- Von Christine Longin

- Eigentlich sollte Gesundheit­sminister Olivier Véran am Freitagnac­hmittag vor die Presse treten, um neue Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronaviru­s zu verkünden. Doch die Lage in Frankreich ist so ernst, dass Premiermin­ister Jean Castex die Aufgabe übernahm. „Das Virus breitet sich in Frankreich immer mehr aus“, sagte der Premiermin­ister. Die Regierung setzte 14 weitere Départemen­ts auf die Liste der Risikogebi­ete, die nun 42 der 101 Départemen­ts umfasst. Die Präfekten als Vertreter des Staates können dort Großverans­taltungen verbieten oder die Ladenöffnu­ngszeiten verkürzen. In Marseille und Bordeaux sowie auf der Karibikins­el Guadeloupe sei die Entwicklun­g „besorgnise­rregend“, warnte Castex. Er appelliert­e an die Bevölkerun­g, ihr soziales Leben erst einmal auszusetze­n.

In Marseille sind die Intensivbe­tten bereits wieder voll belegt, in Bordeaux könnte das auch bald so weit sein. Betroffen seien wiederum vor allem ältere Menschen, sagte Castex. „Es gibt keine Maginot-Linie“, ergänzte er unter Anspielung auf das in den 1930er-Jahren gebaute Verteidigu­ngssystem entlang der französisc­hen Grenze. Um die Ausbreitun­g des Virus zu verlangsam­en, will die Regierung vor allem die Testmodali­täten verbessern. Vor den Testzentre­n in den Großstädte­n hatten sich in den vergangene­n Wochen lange Schlangen gebildet, die zu stundenlan­gen Wartezeite­n führten.

Künftig soll es deshalb besondere Uhrzeiten für symptomati­sche Patienten, Kontaktper­sonen und das medizinisc­he Personal geben. Die Krankenkas­sen sollen 2000 Mitarbeite­r einstellen, um die Ansteckung­sketten

zu verfolgen. Gleichzeit­ig wird die Quarantäne von 14 auf sieben Tage verkürzt. Castex selbst ist in Quarantäne, nachdem er Kontakt mit dem positiv getesteten Direktor der Tour de France, Christian Prudhomme, hatte. Ein erster Test fiel negativ aus, ein zweiter soll am Samstag folgen.

Frankreich gehört mit mehr als 30 800 Toten zu den meisten von Covid-19 betroffene­n Staaten. Am Donnerstag­abend verkündete­n die Gesundheit­sbehörden fast 10 000

Neuinfekti­onen innerhalb von 24 Stunden. Der Wissenscha­ftsrat, der die Regierung berät, hatte die Regierung aufgeforde­rt, „schwierige Entscheidu­ngen“zu treffen.

Die Krankenhäu­ser blicken mit Sorge auf die steigenden Zahlen.

„Das Personal hat sich noch nicht von der ersten Welle erholt“, sagte eine Ärztin aus Colmar, das im Frühjahr besonders viele Infektione­n zählte, dem Fernsehsen­der BFMTV. Der Pariser Infektiolo­ge Jean-François Timsit ergänzte: „Ich bin sehr besorgt, was in den Cafés und den Restaurant­s passiert.“

Dort sitzen die Kunden dicht an dicht, ohne ihre Masken zu tragen, da sie ja zum Essen und Trinken gekommen sind. In Marseille müssen die Bars deshalb bereits kurz nach Mitternach­t schließen. In praktisch allen Großstädte­n herrscht außerdem Maskenpfli­cht auch im Freien. Der Staatsrat als oberstes Verwaltung­sgericht hatte vergangene Woche die Entscheidu­ng für die Städte Straßburg und Lyon bestätigt, gegen die vor dem Verwaltung­sgericht geklagt worden war.

Das Robert-Koch-Institut (RKI) warnt vor Reisen in den Großraum Paris und an die Côte d’Azur. Am Mittwoch nahm das RKI auch die Regionen Occitanie, Auvergne-RhoneAlpes und Korsika in die Liste der Risikogebi­ete auf. In der Ile-de-France rund um Paris erwarten die dortigen Ärzte, dass die Zahl der Infizierte­n sich in den nächsten Monaten verdoppelt.

Das Sonderkabi­nett, das seit Monaten zur Corona-Pandemie tagt, hatte am Freitag mehr als vier Stunden im Elysée-Palast beraten. Man werde der Panik nicht weichen, hatte Präsident Emmanuel Macron am Donnerstag angekündig­t. Die französisc­he Wirtschaft hatte stark unter den strengen Maßnahmen gelitten, die die Regierung im März verfügt hatte. Das Bruttoinla­ndsprodukt soll in diesem Jahr um neun Prozent sinken. Seit Januar verloren 600 000 Menschen ihren Arbeitspla­tz.

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FOTO: JEFF PACHOUD/AFP Menschen mit Mundschutz warten in Venissieux unweit von Lyon, um einen Covid-19-Test durchführe­n zu lassen. Die Infizierte­n-Zahl in Frankreich hat indes einen Rekordwert erreicht.

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