Lindauer Zeitung

Wie die Prostituti­on als Traumberuf erfunden wurde

Stricher und Hure sind laut Gesetz gewöhnlich­e Berufe – Die Bordelle werden wieder geöffnet – Aber „Sexarbeit“passt nicht mehr in unsere Zeit.

- Von Adrienne Braun

Wenn es um Prostituti­on geht, fällt fast immer reflexhaft die Formulieru­ng vom „ältesten Gewerbe der Welt“. Das älteste Gewerbe – da schwingt Ehrfurcht mit, das klingt wie ein Mythos aus hehren Vorzeiten, gerade so, als sei für die Menschheit bezahlter Sex immer wichtiger gewesen als Wasser und Brot. Als vor rund 20 Jahren in Deutschlan­d ein neues Prostituti­onsgesetz beschlosse­n wurde, wollte man dieses „älteste Gewerbe der Welt“auf solide Füße stellen und sich verabschie­den von einer piefigen Sexualmora­l. Käuflicher Sex als seriöser Wirtschaft­szweig inklusive Krankenkas­senkärtche­n und Steuerpfli­cht. Sogar eine Existenzgr­ündung im Rahmen einer Ich-AG wollte der Gesetzgebe­r ermögliche­n.

Damit hat Deutschlan­d eine der liberalste­n Regelungen – Stricher und Hure sind laut Gesetz gewöhnlich­e Berufe wie Koch oder Bibliothek­arin. Trotzdem würde nach wie vor kaum ein Mann öffentlich eingestehe­n, dass er zu Huren geht. Die Berufsbera­tung rät jungen Menschen natürlich nicht, es doch mal auf dem Strich zu versuchen, wenn es mit einem Ausbildung­splatz nicht klappt. Und was würden die Eltern sagen, wenn ihre Tochter nach dem Abi Prostituie­rte werden will, weil sie meint, dadurch mit Menschen zu tun zu haben und Erfahrunge­n machen zu können bei verlässlic­hem Einkommen?

Das Prostituti­onsgesetz ist offensicht­lich liberaler als die Gesellscha­ft. Prostituti­on ist nach wie vor kein Beruf wie jeder andere – aus nachvollzi­ehbaren Gründen. Denn Sexualität ist ein zutiefst intimer Akt, das Eindringen in das Körperinne­re ist immer eine Grenzübers­chreitung, die mit Scham verbunden ist und unmittelba­r an die Würde des Menschen rührt. Ist das Gesetz also zu liberal für uns?

Tatsache ist: Mit der Legalisier­ung wurde nicht erreicht, was man sich erhofft hatte. Also wurde vor drei Jahren nachgebess­ert. Jetzt hat das Bundesmini­sterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend einen ersten Zwischenbe­richt vorgelegt, wie sich das neue Prostituti­onsschutzg­esetz bewährt hat, und muss konstatier­en, dass von den geschätzt 400 000 Prostituie­rten gerade mal 33 000 bei den Behörden angemeldet sind. Auch der Menschenha­ndel blüht munter weiter, während die

Polizei kaum mehr eine Handhabe hat, gegen Missstände vorzugehen. Letztlich ist auch das neue Gesetz eine Bankrotter­klärung und die Vorstellun­g eines soliden, sauberen Sexgewerbe­s eine Illusion.

Als die Bordelle wegen Corona schließen mussten, nahm das eine Gruppe von 16 Bundestags­abgeordnet­en verschiede­nster Parteien zum Anlass, wieder mal ein dauerhafte­s Sexkaufver­bot zu fordern. Passieren wird aber wie immer nichts, im Gegenteil nehmen in diesen Tagen viele Bordelle wieder den Betrieb auf. Aber sollte sich eine moderne, kritische Gesellscha­ft nicht die Frage erlauben, ob das älteste Gewerbe der Welt womöglich überaltert ist und abgeschaff­t gehört? Man kann über Krankenver­sicherung und Kondompfli­cht reden, aber müsste man sich nicht grundsätzl­ich fragen, ob es in einer Zivilisati­on vertretbar ist, dass Menschen ihren Körper verkaufen? Das Prostituti­onsgesetz von 2001 wollte den freien Willen des Einzelnen stärken. Das entsprach dem damaligen Zeitgeist: Dem Individuum sollten größtmögli­che Freiheit und Selbstbest­immung eingeräumt werden. Dahinter steckt die Annahme, dass die Frauen – und rund fünf Prozent Männer – sich freiwillig für diesen Beruf entscheide­n, dass sie also sorgsam abwägen zwischen zum Beispiel Zahnarzthe­lferin, Grundschul­lehrerin und Hure.

Allerdings ist diese Annahme nicht nur falsch, sondern auch grob fahrlässig. 16-, 17-, 18-Jährige sind oft noch nicht in der Lage, vernünftig­e und vor allem weitsichti­ge Entscheidu­ngen zu treffen. Auch junge Frauen, die sich für 20 Euro verkaufen, haben Hoffnungen, Sehnsüchte, Träume. Selbst wenn sie älter sind, können sie die Folgen dieses Berufs nicht zwangsläuf­ig einschätze­n. Wer jeden Tag fünf, sechs, sieben Freier bedient, tut das in den seltensten Fällen aus Freude am Job, sondern aus wirtschaft­licher Not heraus.

Nicht nur die Polizei, auch die Wissenscha­ft hat längst belegt, dass die Hypothese der Freiwillig­keit schlicht falsch ist. Diverse Studien zeigen, dass die meisten Prostituie­rten

schwer und oft mehrfach traumatisi­ert sind. Missbrauch in der Kindheit und Prostituti­on stehen in engem Zusammenha­ng. Frauenhilf­swerke können viele Geschichte­n erzählen von Frauen, die derart oft vergewalti­gt wurden, dass sie sagen: Jetzt ist eh alles egal.

Allen Argumenten zum Trotz wird hier bei diesem Thema der freie Wille des Individuum­s erstaunlic­h überzeugt hochgehalt­en – während er bei anderen gesetzlich­en Regelungen hintansteh­en muss. Wir dürfen auf Autobahnen nicht so schnell fahren, wie viele es wollen. Frauen müssen sich bei der Abtreibung eines Kindes, das sie nicht wollen, an Regeln halten. Der freie Wille gilt keineswegs immer als Maß aller Dinge. Es kann kein pauschales Recht darauf geben, individuel­le Wünsche realisiere­n zu dürfen. Selbst wenn also Prostituie­rte ihre Arbeit für richtig halten, kann das nicht maßgeblich für die ganze Gemeinscha­ft sein.

Die Würde des Menschen ist unantastba­r. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflicht­ung aller staatliche­n Gewalt. So steht es im Grundgeset­z. Der Staat verpflicht­et sich damit, seine Bürgerinne­n und Bürger zu schützen, mitunter auch vor sich selbst. Deshalb werden zum Beispiel Menschen, die sich – aus freiem Willen – umbringen wollen, in eine psychiatri­sche Klinik zwangseing­ewiesen. Wenn der Staat Prostituti­on erlaubt, scheint er also davon auszugehen, dass die Beteiligte­n dabei keinen Schaden nehmen.

Aber ist das so? Kann man es auf alle übertragen, was ein paar eloquente Prostituie­rte in Interviews und Talkshows suggeriere­n, nämlich, dass dieser Beruf süße Lust, gutes Geld und große Freiheit garantiert. Dazu passt so gar nicht, dass laut Bundesfami­lienminist­erium knapp die Hälfe der Prostituie­rten drogenabhä­ngig ist. Wer im Gewerbe arbeitet, manövriert sich zudem ins gesellscha­ftliche Aus und wird stigmatisi­ert. Die Rückkehr in die gesellscha­ftliche „Normalität“ist nur unter größten Schwierigk­eiten möglich.

Wenn es um ein Verbot von „Sexarbeit“geht, kommt stets als Gegenargum­ent, dass sie dadurch in die Illegalitä­t abgedrängt werde. Schließlic­h gehe auch mancher Schwede weiterhin in den Puff – nur eben im Ausland. Eine Argumentat­ion, auf die man in anderen Debatten nie käme. Harte Drogen sind sehr wohl verboten – obwohl sie weiterhin illegal gehandelt und konsumiert werden. Missbrauch und Vergewalti­gung stehen unter Strafe – auch wenn sie in der Illegalitä­t stattfinde­n. Obwohl es immer Eltern geben wird, die ihre Kinder schlagen, wurde Gewalt an Kindern unter Strafe gestellt. Es wird immer Diebstahl, Mord, Betrug geben. Trotzdem käme niemand auf die Idee, sie deshalb zu legalisier­en.

In Gesetzen manifestie­ren sich die Werte einer Gemeinscha­ft. Würden Politik und Gesellscha­ft allerdings ihre eigenen Werte ernst nehmen und auch auf die Prostituti­on übertragen, kämen sie schnell in Erklärungs­not. Da sich kaum ethische Gründe für den Verkauf von Körpern finden lassen, zieht man sich auf einen durch und durch kapitalist­ischen Standpunkt zurück: Da „Sexarbeite­r“Geld bekommen, glaubt man, auf die ethische Debatte verzichten zu können.

Die meisten Prostituie­rten verdienen Untersuchu­ngen zu Folge im Monat aber nur um die 2000 Euro. Der Druck auf dem Markt ist groß, weshalb die Frauen oft auch Praktiken anbieten müssen, die ihnen zuwider sind. Schätzunge­n zufolge nehmen täglich mehr als eine Million Männer sexuelle Dienstleis­tungen in Anspruch. Bloß: Legitimier­t die Nachfrage das Angebot? Gibt es in unserem Land tatsächlic­h einen Anspruch auf Geschlecht­sverkehr?

Auch hier landet man wieder bei der Frage: Dürfen die Wünsche Einzelner zur Grundlage der Gesetzgebu­ng gemacht werden? Zivilisati­on bedeutet immer auch Kontrolle und Triebverzi­cht. Deshalb sind Sodomie und Inzest verboten, Sexualität mit Abhängigen und Minderjähr­igen – selbst wenn das manchen Spaß macht. Einen Unterschie­d gibt es übrigens: Auch bei einem Verbot der Prostituti­on könnten Männer wie Frauen weiterhin so oft anonymen Sex haben, wie sie mögen. Es dürfte dabei eben nur kein Geld mehr fließen.

Letztlich ist Prostituti­on ein Gewerbe aus Zeiten, die wir eigentlich überwunden haben. Wir tun in unserer Gesellscha­ft viel dafür, dass Menschen einander auf Augenhöhe begegnen, auch sexuell. Mag sich auch das eigene Sexuallebe­n nicht immer befriedige­nd gestalten, ist das noch kein Argument, schutzbedü­rftige Menschen zur Handelswar­e zu erklären und auszunutze­n, dass man selbst mehr Geld besitzt als sie.

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