Wie die Prostitution als Traumberuf erfunden wurde
Stricher und Hure sind laut Gesetz gewöhnliche Berufe – Die Bordelle werden wieder geöffnet – Aber „Sexarbeit“passt nicht mehr in unsere Zeit.
Wenn es um Prostitution geht, fällt fast immer reflexhaft die Formulierung vom „ältesten Gewerbe der Welt“. Das älteste Gewerbe – da schwingt Ehrfurcht mit, das klingt wie ein Mythos aus hehren Vorzeiten, gerade so, als sei für die Menschheit bezahlter Sex immer wichtiger gewesen als Wasser und Brot. Als vor rund 20 Jahren in Deutschland ein neues Prostitutionsgesetz beschlossen wurde, wollte man dieses „älteste Gewerbe der Welt“auf solide Füße stellen und sich verabschieden von einer piefigen Sexualmoral. Käuflicher Sex als seriöser Wirtschaftszweig inklusive Krankenkassenkärtchen und Steuerpflicht. Sogar eine Existenzgründung im Rahmen einer Ich-AG wollte der Gesetzgeber ermöglichen.
Damit hat Deutschland eine der liberalsten Regelungen – Stricher und Hure sind laut Gesetz gewöhnliche Berufe wie Koch oder Bibliothekarin. Trotzdem würde nach wie vor kaum ein Mann öffentlich eingestehen, dass er zu Huren geht. Die Berufsberatung rät jungen Menschen natürlich nicht, es doch mal auf dem Strich zu versuchen, wenn es mit einem Ausbildungsplatz nicht klappt. Und was würden die Eltern sagen, wenn ihre Tochter nach dem Abi Prostituierte werden will, weil sie meint, dadurch mit Menschen zu tun zu haben und Erfahrungen machen zu können bei verlässlichem Einkommen?
Das Prostitutionsgesetz ist offensichtlich liberaler als die Gesellschaft. Prostitution ist nach wie vor kein Beruf wie jeder andere – aus nachvollziehbaren Gründen. Denn Sexualität ist ein zutiefst intimer Akt, das Eindringen in das Körperinnere ist immer eine Grenzüberschreitung, die mit Scham verbunden ist und unmittelbar an die Würde des Menschen rührt. Ist das Gesetz also zu liberal für uns?
Tatsache ist: Mit der Legalisierung wurde nicht erreicht, was man sich erhofft hatte. Also wurde vor drei Jahren nachgebessert. Jetzt hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend einen ersten Zwischenbericht vorgelegt, wie sich das neue Prostitutionsschutzgesetz bewährt hat, und muss konstatieren, dass von den geschätzt 400 000 Prostituierten gerade mal 33 000 bei den Behörden angemeldet sind. Auch der Menschenhandel blüht munter weiter, während die
Polizei kaum mehr eine Handhabe hat, gegen Missstände vorzugehen. Letztlich ist auch das neue Gesetz eine Bankrotterklärung und die Vorstellung eines soliden, sauberen Sexgewerbes eine Illusion.
Als die Bordelle wegen Corona schließen mussten, nahm das eine Gruppe von 16 Bundestagsabgeordneten verschiedenster Parteien zum Anlass, wieder mal ein dauerhaftes Sexkaufverbot zu fordern. Passieren wird aber wie immer nichts, im Gegenteil nehmen in diesen Tagen viele Bordelle wieder den Betrieb auf. Aber sollte sich eine moderne, kritische Gesellschaft nicht die Frage erlauben, ob das älteste Gewerbe der Welt womöglich überaltert ist und abgeschafft gehört? Man kann über Krankenversicherung und Kondompflicht reden, aber müsste man sich nicht grundsätzlich fragen, ob es in einer Zivilisation vertretbar ist, dass Menschen ihren Körper verkaufen? Das Prostitutionsgesetz von 2001 wollte den freien Willen des Einzelnen stärken. Das entsprach dem damaligen Zeitgeist: Dem Individuum sollten größtmögliche Freiheit und Selbstbestimmung eingeräumt werden. Dahinter steckt die Annahme, dass die Frauen – und rund fünf Prozent Männer – sich freiwillig für diesen Beruf entscheiden, dass sie also sorgsam abwägen zwischen zum Beispiel Zahnarzthelferin, Grundschullehrerin und Hure.
Allerdings ist diese Annahme nicht nur falsch, sondern auch grob fahrlässig. 16-, 17-, 18-Jährige sind oft noch nicht in der Lage, vernünftige und vor allem weitsichtige Entscheidungen zu treffen. Auch junge Frauen, die sich für 20 Euro verkaufen, haben Hoffnungen, Sehnsüchte, Träume. Selbst wenn sie älter sind, können sie die Folgen dieses Berufs nicht zwangsläufig einschätzen. Wer jeden Tag fünf, sechs, sieben Freier bedient, tut das in den seltensten Fällen aus Freude am Job, sondern aus wirtschaftlicher Not heraus.
Nicht nur die Polizei, auch die Wissenschaft hat längst belegt, dass die Hypothese der Freiwilligkeit schlicht falsch ist. Diverse Studien zeigen, dass die meisten Prostituierten
schwer und oft mehrfach traumatisiert sind. Missbrauch in der Kindheit und Prostitution stehen in engem Zusammenhang. Frauenhilfswerke können viele Geschichten erzählen von Frauen, die derart oft vergewaltigt wurden, dass sie sagen: Jetzt ist eh alles egal.
Allen Argumenten zum Trotz wird hier bei diesem Thema der freie Wille des Individuums erstaunlich überzeugt hochgehalten – während er bei anderen gesetzlichen Regelungen hintanstehen muss. Wir dürfen auf Autobahnen nicht so schnell fahren, wie viele es wollen. Frauen müssen sich bei der Abtreibung eines Kindes, das sie nicht wollen, an Regeln halten. Der freie Wille gilt keineswegs immer als Maß aller Dinge. Es kann kein pauschales Recht darauf geben, individuelle Wünsche realisieren zu dürfen. Selbst wenn also Prostituierte ihre Arbeit für richtig halten, kann das nicht maßgeblich für die ganze Gemeinschaft sein.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. So steht es im Grundgesetz. Der Staat verpflichtet sich damit, seine Bürgerinnen und Bürger zu schützen, mitunter auch vor sich selbst. Deshalb werden zum Beispiel Menschen, die sich – aus freiem Willen – umbringen wollen, in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen. Wenn der Staat Prostitution erlaubt, scheint er also davon auszugehen, dass die Beteiligten dabei keinen Schaden nehmen.
Aber ist das so? Kann man es auf alle übertragen, was ein paar eloquente Prostituierte in Interviews und Talkshows suggerieren, nämlich, dass dieser Beruf süße Lust, gutes Geld und große Freiheit garantiert. Dazu passt so gar nicht, dass laut Bundesfamilienministerium knapp die Hälfe der Prostituierten drogenabhängig ist. Wer im Gewerbe arbeitet, manövriert sich zudem ins gesellschaftliche Aus und wird stigmatisiert. Die Rückkehr in die gesellschaftliche „Normalität“ist nur unter größten Schwierigkeiten möglich.
Wenn es um ein Verbot von „Sexarbeit“geht, kommt stets als Gegenargument, dass sie dadurch in die Illegalität abgedrängt werde. Schließlich gehe auch mancher Schwede weiterhin in den Puff – nur eben im Ausland. Eine Argumentation, auf die man in anderen Debatten nie käme. Harte Drogen sind sehr wohl verboten – obwohl sie weiterhin illegal gehandelt und konsumiert werden. Missbrauch und Vergewaltigung stehen unter Strafe – auch wenn sie in der Illegalität stattfinden. Obwohl es immer Eltern geben wird, die ihre Kinder schlagen, wurde Gewalt an Kindern unter Strafe gestellt. Es wird immer Diebstahl, Mord, Betrug geben. Trotzdem käme niemand auf die Idee, sie deshalb zu legalisieren.
In Gesetzen manifestieren sich die Werte einer Gemeinschaft. Würden Politik und Gesellschaft allerdings ihre eigenen Werte ernst nehmen und auch auf die Prostitution übertragen, kämen sie schnell in Erklärungsnot. Da sich kaum ethische Gründe für den Verkauf von Körpern finden lassen, zieht man sich auf einen durch und durch kapitalistischen Standpunkt zurück: Da „Sexarbeiter“Geld bekommen, glaubt man, auf die ethische Debatte verzichten zu können.
Die meisten Prostituierten verdienen Untersuchungen zu Folge im Monat aber nur um die 2000 Euro. Der Druck auf dem Markt ist groß, weshalb die Frauen oft auch Praktiken anbieten müssen, die ihnen zuwider sind. Schätzungen zufolge nehmen täglich mehr als eine Million Männer sexuelle Dienstleistungen in Anspruch. Bloß: Legitimiert die Nachfrage das Angebot? Gibt es in unserem Land tatsächlich einen Anspruch auf Geschlechtsverkehr?
Auch hier landet man wieder bei der Frage: Dürfen die Wünsche Einzelner zur Grundlage der Gesetzgebung gemacht werden? Zivilisation bedeutet immer auch Kontrolle und Triebverzicht. Deshalb sind Sodomie und Inzest verboten, Sexualität mit Abhängigen und Minderjährigen – selbst wenn das manchen Spaß macht. Einen Unterschied gibt es übrigens: Auch bei einem Verbot der Prostitution könnten Männer wie Frauen weiterhin so oft anonymen Sex haben, wie sie mögen. Es dürfte dabei eben nur kein Geld mehr fließen.
Letztlich ist Prostitution ein Gewerbe aus Zeiten, die wir eigentlich überwunden haben. Wir tun in unserer Gesellschaft viel dafür, dass Menschen einander auf Augenhöhe begegnen, auch sexuell. Mag sich auch das eigene Sexualleben nicht immer befriedigend gestalten, ist das noch kein Argument, schutzbedürftige Menschen zur Handelsware zu erklären und auszunutzen, dass man selbst mehr Geld besitzt als sie.