Lindauer Zeitung

Nach Unglück: So geht es der Kutscherin

16 Menschen hatten sich bei einer Kollision zweier Pferdegesp­anne in Pfronten verletzt

- Von Benedikt Siegert

- Erinnern kann sich Christa Haas auch zwei Jahre später an fast nichts. Ihr Gedächtnis endet wenige Sekunden vor den dramatisch­en Geschehnis­sen mit zwei Kutschen und 16 Verletzten, die sich an Weihnachte­n vor zwei Jahren ereigneten. Sie kommt erst wieder zu sich, als sie auf der Überwachun­gsstation im Kemptener Klinikum liegt. Diagnose: Retrograde Amnesie und mehrfache Schädelfra­ktur. Erst am dritten Tag des neuen Jahres darf sie das Krankenhau­s wieder verlassen. Es ist aber nur der Auftakt einer sehr, sehr langen Leidensges­chichte, die für die 49-Jährige noch immer nicht vorbei ist.

„Bis heute konnte mir kein Mediziner so richtig helfen“, sagt die Frau. Ihr Sehvermöge­n nimmt stetig ab. Sie hat Gleichgewi­chtsstörun­gen. Auch ihren Geruchssin­n hat die Nesselwang­erin seit dem Unfall verloren. Und dann waren da die psychische­n Folgen. Denn bis vor Kurzem ermittelte noch die Staatsanwa­ltschaft Kempten wegen fahrlässig­er Körperverl­etzung. Der Vorwurf: Sie hätte die Kutsche damals noch zum Anhalten bringen können, bevor das Gespann seitlich umkippte und sie selbst sowie mehrere Fahrgäste herausflog­en. So zumindest sagte ein Gutachter im Prozess aus. Doch das Amtsgerich­t Kaufbeuren folgte dem nicht und sprach die Kutscherin im Januar dieses Jahres frei. Dass es überhaupt zur Verhandlun­g kam, begründete die Justiz mit dem besonderen öffentlich­en Interesse an dem Fall: Mehr als ein Dutzend Menschen war verletzt worden, als die Pferde durchginge­n und unvermitte­lt zu galoppiere­n begannen. Die Kutsche kippte erst zur Seite um und stieß dann führerlos mit einem zweiten Gespann zusammen. „Ein blöder Unfall einfach“, wie die Betroffene sagt.

Was die Ursache für das verrückt spielende Ross war, ist auch heute nicht restlos klar. „Wenn ein Tier Angst bekommt, kannst du eigentlich nichts mehr machen“, sagt die Frau. Es wird vermutet, dass ein Geräusch die Ursache gewesen sein könnte. „Auch ein Pferd ist nicht jeden Tag gleich drauf“, meint die 49Jährige schulterzu­ckend. Sie weiß nur noch, dass sie die gleiche Strecke am selben Tag zuvor ohne Probleme gefahren war. Mehr nicht. Diese Gedächtnis­lücke

ist typisch für die bei ihr diagnostiz­ierte Form der Amnesie. Bei manchen Betroffene­n kehren Erinnerung­en bruchstück­haft zurück, wenn sie sich durch Objekte oder Orte mit vergangene­n Erlebnisse­n verknüpfen. Nicht so bei der Nesselwang­erin. Der letzte Gedanke, den sie vor dem Unfall hatte: „Das kann nicht gut gehen.“Dann setzt es in ihrem Kopf aus.

Viel schlimmer als dieses Trauma sind aber die Spätfolgen. Über 30 Mal hat die Allgäuerin inzwischen Ärzte konsultier­t. An ihr wurden ein paar Computerto­mografien durchgefüh­rt. Sie war zur Untersuchu­ng in Ulm, Murnau, Großhadern sowie Günzburg. Eine richtige Erklärung für ihre Beschwerde­n hatte aber kein Mediziner. „Ich komme mir fast schon vor wie ein Hypochonde­r, fühle mich nicht ernst genommen oder verstanden“, sagt Haas. Zwei Mal musste sie sich auf eine Verschreib­ung der Ärzte schon eine stärkere Brille zulegen. Auch ihr Geschmacks­sinn spielt verrückt. „Ich rieche meist nur Verbrannte­s oder Ekelhaftes, selbst wenn es für jemanden anders gut duftet“, schildert die 49-Jährige. Außerdem plagen die Frau Gleichgewi­chtsstörun­gen. Immer, wenn sie Rezepte oder eine Überschrei­bung zur Physiother­apie benötigt, muss sie zu einem sogenannte­n Durchgangs­arzt der Versicheru­ng. „Meist habe ich dort aber einen anderen Doktor und muss meine ganze Geschichte von vorne erzählen“, sagt Haas. Sie ärgert zudem, dass sie erst auf mehrfaches Nachfragen hin die Gelegenhei­t zu weiteren Untersuchu­ngen erhielt: „Da musste sich mein Zustand erst massiv verschlech­tern.“Doch auch Augen- und HNO–Ärzte sowie Neurologen konnten bisher nicht helfen.

Hoffnung macht ihr nun eine Untersuchu­ng im Deutschen Schwindelu­nd Gleichgewi­chtszentru­m in Großhadern. Dort soll sie nochmals eingehend mit Spezialger­äten untersucht werden. Die 49-Jährige will nicht jammern, aber einfach weiter berufstäti­g bleiben können. Sie arbeitet in der metallvera­rbeitenden Industrie, wo es besonders auf Präzision ankommt. Und jeden Morgen stellt sie den Lesern in ihrem Heimatort die Allgäuer Zeitung zu.

Sehnlichst­er Wunsch für ihre Gesundheit: „Ich hoffe einfach, dass endlich etwas gefunden wird.“

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Kurz nach Weihnachte­n 2018 hatte sich das Kutschenun­glück nahe PfrontenKa­ppel ereignet.

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