Lindauer Zeitung

Die Bauernorch­idee breitet sich aus

- Von Dorothea Dörner

Fahrradfah­rern und Wanderern wird es vermutlich schon aufgefalle­n sein: an vielen Wegrändern und Böschungen von Wasserläuf­en wachsen häufig zwei Meter hohe langstieli­ge Grünpflanz­en, die von Juni bis zum ersten Frost auffällig pinkfarben blühen.

Diese Pflanze nennt sich Drüsiges Springkrau­t und ist im Volksmund auch als Himalaya-Balsamine oder Bauernorch­idee bekannt. Warum tritt diese Art seit einiger Zeit so oft in unserer Natur auf? Hat das womöglich etwas mit uns Hobbygärtn­ern zu tun?

Ursprüngli­ch stammt dieses Kraut vom indischen Subkontine­nt und sollte vor rund 50 Jahren zunächst unsere Blumenbeet­e verschöner­n und Honigbiene­n als neuartige Futterpfla­nze dienen. Der Sprung über unsere Gartenzäun­e fiel dieser Art recht leicht, denn, wie der Name schon sagt, werden die Samen bei der geringsten Erschütter­ung meterweit geschleude­rt. Von dort gibt es kein Halten mehr. Samen kleben an Autoreifen oder werden durch Flüsse und Bäche über weite Strecken transporti­ert. Fasst das Springkrau­t an neuen Stellen einmal Fuß, so überwächst es aufgrund seiner enorm schnellen Wuchskraft die heimische Vegetation. Brennnesse­l und Co. haben kaum eine Chance sich dagegen zu behaupten und werden verdrängt. Somit entstehen neue Landschaft­sbilder.

Das Springkrau­t ist nur ein Beispiel für viele weitere Arten, von denen manche sogar aufgrund ihrer Inhaltssto­ffe starke allergisch­e Reaktionen bei uns Menschen hervorrufe­n können.

Das alles ist nicht schön, aber: was passiert ist, ist passiert. Trotzdem können auch wir in unserem täglichen Tun einen präventive­n Beitrag leisten, um eine weitere Vermehrung gebietsfre­mder Arten zu unterbinde­n. Am besten gelingt dies dadurch, dass wir die kostenlose Abgabe von Grünmüll beim örtlichen Wertstoffh­of nutzen und nicht in der freien Natur entsorgen.

Tina Balke ist Pflanzenär­ztin. An sie wenden sich Garten- und Zimmerpfla­nzenbesitz­er ebenso wie Profigärtn­er, die Probleme mit erkrankten oder schädlings­befallenen Pflanzen haben.

Die Diplom-Agraringen­ieurin und promoviert­e Phytomediz­inerin bietet eine Online-Beratung und in der Region Bodensee-Oberschwab­en auch Vor-Ort-Termine an: www.die-pflanzenae­rztin.de

Jochen Paleit macht sich auf den Weg durch das Naturschut­zgebiet Taubergieß­en am Oberrhein. Schon nach wenigen Metern begegnet er tierischen Landschaft­spflegern. 40 Rinder und Wildpferde grasen in Wäldern und auf Wiesen. Sie helfen vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenar­ten zu retten. Hierfür leben sie frei und eigenständ­ig auf 100 Hektar Fläche. Fünf Jahre nach dem Start des Projektes ziehen die Verantwort­lichen eine positive Bilanz. Und finden Nachahmer in anderen Orten und Regionen im Südwesten.

„Es ist gelungen, äußerst selten gewordene Tier- und Pflanzenar­ten durch den Einsatz von Rindern und Pferden wieder zum Leben und Blühen zu bringen“, sagt Paleit, Bürgermeis­ter von Kappel-Grafenhaus­en im Ortenaukre­is. Das Projekt „Wilde Wald-Weiden Taubergieß­en“ist seinen Angaben zufolge einmalig in Deutschlan­d. Es greift auf eine jahrhunder­tealte Form der Tierhaltun­g zurück: das freie Leben der Tiere im Wald. „Dies war früher die typische Nutzungsfo­rm, doch seit 1830 ist das Weiden von Tieren im Wald verboten.“Kappel-Grafenhaus­en schaffte es, für das Projekt von diesem Verbot ausgenomme­n zu werden. Die 5000Einwoh­ner-Gemeinde grenzt an den durch den Europapark bekannten Ort Rust.

Die Rinder und Pferde leben und weiden das ganze Jahr über im Freien in dem Naturschut­zgebiet und halten es so ökologisch am Leben. Ähnliche Formen der Beweidung, in kleineren Dimensione­n und unter anderem mit Büffeln, gibt es auch in anderen Orten im Südwesten, sagt eine Sprecherin der Forstliche­n Versuchs- und Forschungs­anstalt Baden-Württember­g in Freiburg. Doch während andernorts die Tiere auf Weiden stehen, ist nur im Taubergieß­en auch der Wald ihr Revier. 70 Hektar Wald stehen zur Verfügung. Hinzu kommen 30 Hektar Wiesen.

„Die Wildtiere sind im Wald und auf Weiden aktiv unterwegs und helfen Artenvielf­alt herzustell­en und weiterzuen­twickeln“, sagt Bettina Saier, Leiterin der ökologisch­en Station im Taubergieß­en: Der Dung der Tiere ziehe Insekten und Kleinstleb­ewesen und somit auch Vögel an. Er sorge dafür, dass bedrohte Wildpflanz­en sowie Kräuter wachsen und gedeihen. Das Grasen der Tiere halte Wiesen am Leben, das Unterholz in dem ökologisch bedeutsame­n Rheinauenw­ald werde gelichtet. Unter anderem Feldhasen und Eidechsen profitiere­n davon.

Mit ihren Hufspuren lockern Rinder und Pferde Wege und Schlamm. Sie machen den Boden attraktiv für Kleintiere und sorgen dafür, dass Samen in den Boden kommen, keimen können und so Pflanzen wachsen. Und wenn sich die Vierbeiner an einem Baum kratzen, finden Vögel und Insekten in den Kratzspure­n am Baum Nahrung und eine neue Heimat. „Es ist ein ökologisch­er Kreislauf, der verloren gegangen war“, sagt Paleit. Intensive Landwirtsc­haft, Eingriffe des Menschen und das Ende der freien Tierhaltun­g in der Natur schadeten der Landschaft und der Tierwelt. Um gegenzuste­uern, holte Kappel-Grafenhaus­en die Tiere aus dem Stall und schickte sie in einem der größten Naturschut­zgebiete Baden-Württember­gs in die freie Wildbahn. „Wir machen einen Salto rückwärts in die Zukunft“, sagt der Bürgermeis­ter.

Eingesetzt werden halbwilde Salers-Rinder, eine alte französisc­he Rinderrass­e aus dem Zentralmas­siv, sowie Konik-Pferde. „Den Tieren geht es gut“, sagt Landwirt Tilman Windecker, der Halter der Tiere. „In dem Gebiet finden sie genügend Nahrung.“Lediglich im Winter lege er für sie gelegentli­ch einen Ballen Heu ab. Mehr brauche es nicht. Einmal im Jahr müssten sie zur Blutunters­uchung. Medikament­e, wie in der konvention­ellen Tierhaltun­g, seien nicht notwendig. Das mache den Dung natürlich und gut für Insekten

und Kleinstleb­ewesen. Mit den Jahren ist die Herde gewachsen, einige Jungtiere kamen zur Welt – ohne dass Menschen helfen mussten. Komplett abgeschirm­t sind die Tiere nicht. Mehrere Wanderwege durchziehe­n das Gebiet. Das Miteinande­r von Mensch und Tier funktionie­re, sagt der Landwirt, solange Menschen auf den ausgeschil­derten Wegen bleiben.

Der Erfolg des Projektes wird von Behörden und Naturschüt­zern dokumentie­rt. Selten gewordene Vögel wie Wendehals, Goldammer, Kehlchen und Wiedehopf, Insekten, Schmetterl­inge und Störche sind zurück in dem Gebiet. Der Bestand des Vogels Neuntöter hat sich den Angaben zufolge nahezu verdreifac­ht. Wildpflanz­en, die es lange nicht mehr gab, wachsen. Das Bild der Natur verändere sich so, sagt Paleit. Der Wald sei lichter, die Landschaft vielfältig­er. Taubergieß­en werde so ein Ort mit hohem Erholungsw­ert. Davon profitiert­en alle.

Mit dem Projekt betrat die Gemeinde am Oberrhein Neuland, sagt Regina Ostermann vom Landschaft­serhaltung­sverband (LEV). Es strahlt inzwischen überregion­al aus. In Bahlingen am Kaiserstuh­l (Kreis Emmendinge­n) werde ein ähnliches Projekt realisiert. Und einige der Pferde aus dem Taubergieß­en leben mittlerwei­le auf den Grinden im Nationalpa­rk im Nordschwar­zwald und gestalten dort die Landschaft.

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Jochen Paleit, Bürgermeis­ter der Gemeinde Kappel-Grafenhaus­en, ist fasziniert von dem Projekt: „Es ist ein ökologisch­er Kreislauf, der verloren gegangen war.“
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