Gesellschaften der Angst
Der US-Film „Nomadland“von Chloé Zhao gewinnt den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen von Venedig
- Es war eine Überraschung für viele. Schon wieder, zum fünften Mal in 15 Jahren und zum zweiten Mal hintereinander gewinnt ein amerikanischer Film in Venedig. Chloé Zhao, in China geborene, in England aufgewachsene amerika-begeisterte Einwanderin hat mit „Nomadland“einen halbdokumentarischen Film über arbeitslose weiße Amerikaner gedreht, der trotz all seiner Abgründe zu einer Art Ode auf den amerikanischen Traum werden soll – und auf dessen Freiheitsversprechen.
Frances McDormand spielt die Hauptrolle, der Rest sind vor allem Laien und reale Nomaden, die in ihren Vans und Wohnwagen leben. McDormands Figur verliert ihre Arbeit, und schlägt sich danach bei Amazon durch. Sie will keine Hilfe annehmen, dann fährt sie aber doch in den Süden zu einer Gemeinschaft von Trailerpark-Bewohnern. Den Menschen in diesem Film geht es schlecht. Sie sind arbeitslos, arbeitsunfähig, leiden unter Stresssyndromen, haben Angst.
McDormands Figur macht den Film über alles Mögliche, um Arbeit zu bekommen: von Auto reparieren bis Toiletten putzen. Es ist schon klar: Es geht hier um Solidarität mit Armen.
Aber künstlerisch ist dieser Film alles, nur kein Goldener Löwe! Ein formloser, langweiliger Film ohne Dramaturgie, ohne echte Handlung – ein unverdienter Preis für Arte povera, die die Kunst des Films nicht weiterbringt, sie eher zurückwirft. Und ein Schlag ins Gesicht all derjenigen
Goldener Löwe für den besten Film: „Nomadland“von Chloé Zhao
Großer Preis der Jury: „Nuevo orden“von Michel Franco
Silberner Löwe für die beste Regie: Kiyoshi Kurosawa für „Spy no Tsuma (Wife of a Spy)“
Preis für das beste Drehbuch: Chaitanya Tamhane für „The Disciple“
Preis für die beste Schauspielerin:
Filmemacher, die die Jury in den Minuten zuvor ausgezeichnet hatte. Denn alle anderen prämierten Filme zeichnen sich nicht nur durch Inhalte sondern auch durch eine ästhetisch konsequente Form aus.
Das gilt mehr als für alle für den Regiepreis: „Wife of a Spy“ist ein Film noir aus Japan. Kiyoshi Kurosawa erzählt eine Geschichte aus den
Vanessa Kirby für „Pieces of a Woman“
Preis für den besten Schauspieler: Pierfrancesco Favino für „Padrenostro“
Spezialpreis der Jury: „Dorogie Tovarischi! (Dear Comrades!)“von Regisseur Andrei Konchalovsky
Marcello-Mastroianni-Preis für den besten Jungdarsteller: Rouhollah Zamani für „Khorshid“(dpa) frühen 1940er-Jahren. Japans Diktatur radikalisiert sich zunehmend. Im Zentrum des Films steht ein glücklich verheiratetes Ehepaar. Man lebt im Wohlstand und vor allem liebt man das westliche Leben: Kleidung, Whiskey, und nicht zuletzt das Kino.
Auf diesem Fundament öffnet Kurosawa ein faszinierendes, spannendes, dabei sehr spielerisches Tableau der Verwirrung. Immer wieder wechseln die Perspektiven auf die Figuren und das Geschehen. Ein Vexierspiel, bei dem man sich fragt, wer hier wen betrügt und warum? Wer der Verräter ist, und was Verrat überhaupt heißt unter den Umständen einer faschistischen Diktatur? Wie es sich für einen guten Film noir gehört, sind die moralischen Gewichtungen nicht klar verteilt. Wer hier gut ist, wer böse, das ist genauso unklar wie vieles andere.
Kurosawa wickelt diese reißerische Geschichte in leise Töne und romantische Musik – in Japan ist die
Verpackung immer schon wichtiger als der Inhalt, und diese Verpackung ist bezaubernd.
Vor allem der Sieger des „Großer Preis der Jury“, der Film „Nuevo orden“- neue Ordnung – vom Mexikaner Michel Franco hatte am letzten Tag für Aufsehen gesorgt und das Publikum gespalten.
Chaos herrscht von Anfang an. Paranoia. Was genau los ist, ahnt man nicht. Aber auch an unsere Pandemie denkt man bald. Denn eine Hochzeitsfeier wird überfallen, als Teil eines Aufstands im ganzen Land. Auch einzelne Dienstboten schließen sich den Eindringlingen an. Man raubt, plündert, zerstört, verwundet, demütigt, tötet – destruktive Willkür. Die Dinge sind hier großartig explizit im Vergleich zum protestantischen Hollywood-Kino. Dieser Film ist nicht sauber, sondern schmutzig.
Es geht Franco darum, eine Gesellschaft der Angst zu zeigen. Sein Film ist überreizt, aber auch präzises
Beobachtungskino, wenn wir an das Mexiko der Drogenkartelle denken, die selbstverständlich Bündnisse und Stillstandsabkommen mit Politik, Polizei und Militär geschlossen haben.
Korruption und Verrat auch unter den Eliten gibt es nicht nur in diesem Film. Am Ende dieses Paranoia-PolitThrillers steht eine oberflächlich wiedergewonnene Stabilität und universales Misstrauen, gerade gegenüber Institutionen und Polizei. Moral: Traue keinem.
Mit der 77. Ausgabe ging am Wochenende eine hoffentlich einmalige Mostra del Cinema zu Ende. Die Corona-Bedingungen zogen alle Aspekte des Festivals in Mitleidenschaft. Aber sie konnten – genauso wie die Abwesenheit der Amerikaner – das Filmfestival nicht stoppen, den Besucherstrom und dessen Spaß am Kino und großer Filmkunst nicht mindern. Das ist die wichtigste Botschaft der letzten zehn Tage.