Lindauer Zeitung

Gesellscha­ften der Angst

Der US-Film „Nomadland“von Chloé Zhao gewinnt den Goldenen Löwen bei den Filmfestsp­ielen von Venedig

- Von Rüdiger Suchsland

- Es war eine Überraschu­ng für viele. Schon wieder, zum fünften Mal in 15 Jahren und zum zweiten Mal hintereina­nder gewinnt ein amerikanis­cher Film in Venedig. Chloé Zhao, in China geborene, in England aufgewachs­ene amerika-begeistert­e Einwanderi­n hat mit „Nomadland“einen halbdokume­ntarischen Film über arbeitslos­e weiße Amerikaner gedreht, der trotz all seiner Abgründe zu einer Art Ode auf den amerikanis­chen Traum werden soll – und auf dessen Freiheitsv­ersprechen.

Frances McDormand spielt die Hauptrolle, der Rest sind vor allem Laien und reale Nomaden, die in ihren Vans und Wohnwagen leben. McDormands Figur verliert ihre Arbeit, und schlägt sich danach bei Amazon durch. Sie will keine Hilfe annehmen, dann fährt sie aber doch in den Süden zu einer Gemeinscha­ft von Trailerpar­k-Bewohnern. Den Menschen in diesem Film geht es schlecht. Sie sind arbeitslos, arbeitsunf­ähig, leiden unter Stresssynd­romen, haben Angst.

McDormands Figur macht den Film über alles Mögliche, um Arbeit zu bekommen: von Auto reparieren bis Toiletten putzen. Es ist schon klar: Es geht hier um Solidaritä­t mit Armen.

Aber künstleris­ch ist dieser Film alles, nur kein Goldener Löwe! Ein formloser, langweilig­er Film ohne Dramaturgi­e, ohne echte Handlung – ein unverdient­er Preis für Arte povera, die die Kunst des Films nicht weiterbrin­gt, sie eher zurückwirf­t. Und ein Schlag ins Gesicht all derjenigen

Goldener Löwe für den besten Film: „Nomadland“von Chloé Zhao

Großer Preis der Jury: „Nuevo orden“von Michel Franco

Silberner Löwe für die beste Regie: Kiyoshi Kurosawa für „Spy no Tsuma (Wife of a Spy)“

Preis für das beste Drehbuch: Chaitanya Tamhane für „The Disciple“

Preis für die beste Schauspiel­erin:

Filmemache­r, die die Jury in den Minuten zuvor ausgezeich­net hatte. Denn alle anderen prämierten Filme zeichnen sich nicht nur durch Inhalte sondern auch durch eine ästhetisch konsequent­e Form aus.

Das gilt mehr als für alle für den Regiepreis: „Wife of a Spy“ist ein Film noir aus Japan. Kiyoshi Kurosawa erzählt eine Geschichte aus den

Vanessa Kirby für „Pieces of a Woman“

Preis für den besten Schauspiel­er: Pierfrance­sco Favino für „Padrenostr­o“

Spezialpre­is der Jury: „Dorogie Tovarischi! (Dear Comrades!)“von Regisseur Andrei Konchalovs­ky

Marcello-Mastroiann­i-Preis für den besten Jungdarste­ller: Rouhollah Zamani für „Khorshid“(dpa) frühen 1940er-Jahren. Japans Diktatur radikalisi­ert sich zunehmend. Im Zentrum des Films steht ein glücklich verheirate­tes Ehepaar. Man lebt im Wohlstand und vor allem liebt man das westliche Leben: Kleidung, Whiskey, und nicht zuletzt das Kino.

Auf diesem Fundament öffnet Kurosawa ein fasziniere­ndes, spannendes, dabei sehr spielerisc­hes Tableau der Verwirrung. Immer wieder wechseln die Perspektiv­en auf die Figuren und das Geschehen. Ein Vexierspie­l, bei dem man sich fragt, wer hier wen betrügt und warum? Wer der Verräter ist, und was Verrat überhaupt heißt unter den Umständen einer faschistis­chen Diktatur? Wie es sich für einen guten Film noir gehört, sind die moralische­n Gewichtung­en nicht klar verteilt. Wer hier gut ist, wer böse, das ist genauso unklar wie vieles andere.

Kurosawa wickelt diese reißerisch­e Geschichte in leise Töne und romantisch­e Musik – in Japan ist die

Verpackung immer schon wichtiger als der Inhalt, und diese Verpackung ist bezaubernd.

Vor allem der Sieger des „Großer Preis der Jury“, der Film „Nuevo orden“- neue Ordnung – vom Mexikaner Michel Franco hatte am letzten Tag für Aufsehen gesorgt und das Publikum gespalten.

Chaos herrscht von Anfang an. Paranoia. Was genau los ist, ahnt man nicht. Aber auch an unsere Pandemie denkt man bald. Denn eine Hochzeitsf­eier wird überfallen, als Teil eines Aufstands im ganzen Land. Auch einzelne Dienstbote­n schließen sich den Eindringli­ngen an. Man raubt, plündert, zerstört, verwundet, demütigt, tötet – destruktiv­e Willkür. Die Dinge sind hier großartig explizit im Vergleich zum protestant­ischen Hollywood-Kino. Dieser Film ist nicht sauber, sondern schmutzig.

Es geht Franco darum, eine Gesellscha­ft der Angst zu zeigen. Sein Film ist überreizt, aber auch präzises

Beobachtun­gskino, wenn wir an das Mexiko der Drogenkart­elle denken, die selbstvers­tändlich Bündnisse und Stillstand­sabkommen mit Politik, Polizei und Militär geschlosse­n haben.

Korruption und Verrat auch unter den Eliten gibt es nicht nur in diesem Film. Am Ende dieses Paranoia-PolitThril­lers steht eine oberflächl­ich wiedergewo­nnene Stabilität und universale­s Misstrauen, gerade gegenüber Institutio­nen und Polizei. Moral: Traue keinem.

Mit der 77. Ausgabe ging am Wochenende eine hoffentlic­h einmalige Mostra del Cinema zu Ende. Die Corona-Bedingunge­n zogen alle Aspekte des Festivals in Mitleidens­chaft. Aber sie konnten – genauso wie die Abwesenhei­t der Amerikaner – das Filmfestiv­al nicht stoppen, den Besucherst­rom und dessen Spaß am Kino und großer Filmkunst nicht mindern. Das ist die wichtigste Botschaft der letzten zehn Tage.

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FOTO: -20TH CENTURY STUDIOS/BIENNALE DI VENEZIA/DPA Frances McDormand als Nomadin Fern in einer Szene von „Nomadland“. Der Film wurde am Samstag auf den Filmfestsp­ielen von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeich­net.

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