Lindauer Zeitung

Bayerns Neuanfang

Vor 75 Jahren wurde der Freistaat gegründet – auf Befehl eines Amerikaner­s

- Von Martina Scheffler

(lby) - Der „Mia-sanmia“-Bayer wird vielleicht sagen, es sei doch klar, dass ein so tolles Land mehrfach gegründet wird. Vom Stammesher­zogtum über das Königreich und den Freistaat bis zum wohl glanzloses­ten Akt, der sich am Samstag zum 75. Mal jährt. Am 19. September 1945 verfasst General Dwight D. Eisenhower, oberster Befehlshab­er der amerikanis­chen Streitkräf­te in Europa, die Proklamati­on Nr. 2, in der er drei Staaten in der amerikanis­chen Besatzungs­zone für gegründet erklärt: Groß-Hessen, Württember­gBaden – das erst 1952 in Baden-Württember­g aufging – und Bayern: der Freistaat in seinen Grenzen von 1933. Nur ohne den Kreis Lindau – denn anders als der Rest von Bayern gehörte der nicht zur amerikanis­chen sondern zur französisc­hen Besatzungs­zone und wurde erst 1956 wieder dem Freistaat zugeschlag­en.

Die Staaten sollten „volle gesetzgebe­nde, richterlic­he und vollziehen­de Gewalt“erhalten. Jeder Staat sollte zudem eine Staatsregi­erung haben: Ihr stand in Bayern der erste Nachkriegs-Ministerpr­äsident Fritz Schäffer (CSU) vor. Er war bereits im Mai von der Militärreg­ierung ernannt worden. Die Staatsgrün­dung sei der „Nachvollzu­g“dieser Ernennung gewesen, sagt Thomas Schlemmer, Dozent an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München und Chefredakt­eur der Vierteljah­rshefte für Zeitgeschi­chte.

Die Aufteilung der Besatzungs­zone in Länder sei eine wichtige Grundlage für die BRD gewesen – die Proklamati­on sieht Schlemmer als „Eckstein der Föderalism­usgeschich­te“. An den Machtverhä­ltnissen änderte sich aber erst mal nichts, die Amerikaner hatten das eigentlich­e Sagen. Eisenhower war Oberbefehl­shaber der amerikanis­chen Besatzungs­truppen in Deutschlan­d, in Bayern war General George Patton regionaler Oberbefehl­shaber, ein „sehr hemdsärmel­iger Truppenfüh­rer“, wie Schlemmer sagt.

Die neue Zeit in Bayern war denn auch an anderen Veränderun­gen zu bemerken als an Verfassung­sfragen. Die Verwaltung musste wiederaufg­ebaut werden – ohne NSDAP-Mitglieder, die Bevölkerun­g musste durch die „reeducatio­n“Demokratie lernen, Kriegsverb­recher und NSWürdentr­äger aufgespürt werden, Versorgung und Infrastruk­tur wiederherg­estellt und Waffen sichergest­ellt werden – und das alles in einem sehr „kapillaren“System, wie Schlemmer es nennt. Jeder Kreis habe praktisch seine eigene amerikanis­che Militärreg­ierung gehabt. „Das strahlte in den Alltag der Menschen hinein.“

Und was die Menschen im Trümmerlan­d bewegte, spiegelt auch die Tagesordnu­ng der dreieinhal­bstündigen Ministerra­tssitzung wider, die Fritz Schäffer just am Tag der Wiederaufe­rstehung Bayerns leitete. Die Brennstoff­versorgung, Holzdiebst­ahl, beschlagna­hmter Hopfen, die Flüchtling­sfrage und die Entnazifiz­ierung, die zum „Zusammenbr­uch zahlreiche­r Finanzämte­r“geführt habe, das war wichtig. Blumen für Bayern zum Neuanfang? Man hatte anderes zu tun. München war zu 33 Prozent zerstört, Nürnberg zur Hälfte, Augsburg zu einem Viertel. Insgesamt war Bayern mit einem Anteil von fünf Prozent an den deutschen Schäden dennoch gut weggekomme­n. Zwei Millionen Flüchtling­e und

Vertrieben­e strömten ins Land, vor allem Sudetendeu­tsche. Erst im August war der erste Nachkriegs­stadtrat von München zusammenge­treten. Zehn ehemalige KZ-Häftlinge aus Dachau waren darunter. Zwei Tage vor Neugründun­g Bayerns öffneten die Münchner Volksschul­en wieder. Der Gesundheit­szustand der Menschen in der Landeshaup­tstadt wird trotz aller Entbehrung­en als „im Allgemeine­n befriedige­nd“bewertet. In seiner ersten Regierungs­erklärung hatte Schäffer bekannt: „Wir wollen in Bayern Menschen, die frei nach ihrer Art leben wollen; die in christlich­em Glauben Unrecht hassen und für den Gedanken des Rechts leben und kämpfen (…).“

Schäffers Tage im höchsten Regierungs­amt allerdings waren gezählt: Neun Tage nach der Proklamati­on

Nr. 2 setzten die Amerikaner ihn ab, weil er für ihren Geschmack zu wenig für die Entnazifiz­ierung des öffentlich­en Dienstes getan hatte. Wilhelm Hoegner (SPD), der heute als Vater der bayerische­n Verfassung gilt, wurde sein Nachfolger.

Erst im Dezember 1946 wird der erste bayerische Landtag nach dem Krieg gewählt – und damit „die erste demokratis­ch legitimier­te Regierung Bayerns seit der Weimarer Republik“, resümiert Schlemmer. Die Präambel der Verfassung spiegelt auch die Verfassthe­it der Bayern in jener Zeit wider: „Angesichts des Trümmerfel­des“, das der NS-Staat hinterließ, „(…) gibt sich das Bayerische Volk, eingedenk seiner mehr als tausendjäh­rigen Geschichte, nachstehen­de demokratis­che Verfassung“.

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FOTO: DPA Am 19. September 1945 wurde Bayern als Staat innerhalb der US-Zone durch die Amerikaner neu gegründet. Die Spuren des Krieges waren allgegenwä­rtig – nicht nur durch das zerstörte Münchner Hofbräuhau­s.

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