In Frankreich explodiert die Zahl der Neuinfektionen
Bei Tests und Nachverfolgungen gibt es massive Schwierigkeiten – Keine Strategie gegen das Virus
Dornbirn hat sich bis zum Freitag am Bodensee zu drittgrößtem CoronaHotspot entwickelt. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl war der Bezirk mit Grenznähe zu Deutschland sehr stark von Neuinfektionen betroffen. Der Bezirk Dornbirn zählte bis zum Freitagmittag 113 Infizierte pro 100 000 Einwohner. Zeitweise war Dornbirn sogar noch stärker betroffen als Innsbruck oder Wien. Die deutsche Bundesregierung hatte die österreichische Hauptstadt in dieser Woche bereits zum Risikogebiet erklärt.
Von Donnerstag auf Freitag bestätigten die österreichischen Behörden insgesamt 808 neue Corona-Fälle. Aktuell sind 7 447 Menschen in Österreich infiziert. Seit Beginn der Pandemie gab es 37 047 Fälle, 763 Menschen sind gestorben. Weil sich die Lage derzeit weiter zuspitzt, hatte Bundeskanzler Sebastian Kurz die Corona-Vorschriften am Donnerstag drastisch verschärft. Private Feiern in geschlossenen Räumen werden auf maximal zehn Personen limitiert. Für Veranstaltungen in Clubs, Discos und Bars gilt zudem eine Sperrstunde ab 1 Uhr nachts. Außerdem weitete die Regierung die Maskenpflicht aus. Sie gilt nicht mehr nur für Geschäfte sowie den öffentlichen Nahverkehr, sondern ab Montag auch in der Gastronomie.
Birga Woytowicz, Ravensburg
SÖsterreichs spanische
chon im Frühjahr war das das EULand mit den meisten CoronaFällen. Nun schwappt die zweite Welle durch Europa und Spanien ist schon wieder trauriger Spitzenreiter bei den Infektionen. Das ganze Land gilt als Risikogebiet. Nach Angaben des spanischen Gesundheitsministeriums werden täglich 10 000 bis 11 000 durch Tests bestätigte Ansteckungen registriert. Die wöchentliche Fallhäufigkeit pro 100 000 Einwohner kletterte auf 121 – zehnmal so viel wie in Deutschland. In der Hauptstadt Madrid, wo am Freitag für die südlichen Stadtteile Mobilitätsbeschränkungen verkündet wurden, liegt dieser Referenzwert sogar bei über 300. Das ist erheblich mehr als in den globalen Hotspots in Lateinamerika oder in den USA.
Obwohl Spanien die härtesten Corona-Beschränkungen Europas hat, die sogar eine totale Maskenpflicht und ein öffentliches Rauchverbot einschließen, bekommt das Land die Epidemie nicht in den Griff. Warum? Nach Einschätzung der einflussreichen Zeitung „El País“liegt es vor allem am unzulänglichen Gesundheitssystem. Dieses sei kaputtgespart worden. So fehlen etwa Corona-Ermittler, welche die Kontaktpersonen von Infizierten aufspüren. Zudem sind die Testlabors überlastet. Kranke mit Corona-Symptomen müssen eine Woche oder länger auf das Testergebnis warten.
Ralph Schulze, Madrid
Königreich
Der Fernsehspot des Gesundheitsministeriums dauert nicht einmal eine Minute, doch er ist drastisch: Eine Großmutter feiert im Kreise ihrer Familie Geburtstag. Mit Küsschen und einer Torte, auf der sie die Kerzen ausbläst. Kurz darauf liegt sie auf der Intensivstation, angeschlossen an Apparate. Die Regierung will mit den Bildern die Bevölkerung warnen. Denn in den vergangenen Wochen gingen die Zahlen der Neuinfektionen massiv nach oben. Gut 10 000 neue Fälle innerhalb von 24 Stunden zählte das Land am Donnerstagabend. In der Region um Marseille sind die Beatmungsplätze bereits wieder alle belegt. Händeringend suchen die Krankenhäuser der Hafenstadt nach medizinischem Personal, um die Patienten zu betreuen. In Bordeaux sieht es nicht viel besser aus. „Die Epidemie ist wieder sehr aktiv in unserem Land“, musste Gesundheitsminister Olivier Véran einräumen. 53 und damit mehr als die Hälfte aller Départements sind laut Regierung inzwischen Risikogebiete mit mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner. Die Karte Frankreichs, des nach Spanien derzeit am meisten betroffenen Landes in Europa, färbt sich wieder in der Alarmfarbe Rot. Wie konnte es so weit kommen? Testen, nachverfolgen und isolieren sind die drei Begriffe, mit denen die Regierung das Virus in den Griff kriegen will. Doch keine der drei Säulen trägt. Schon bei den Tests offenbart sich ein Chaos, das in Paris und anderen Großstädten zu stundenlangen Warteschlangen vor den Labors führt. Zwar werden inzwischen wöchentlich 1,2 Millionen Menschen getestet und damit fast so viele wie in Deutschland. Doch die Getesteten müssen bis zu einer Woche auf das Ergebnis warten, weil in Labors Reagenzien und Geräte fehlen. In der Zwischenzeit können sie Dutzende andere anstecken.
Genauso schwierig ist die Nachverfolgung der Ansteckungsketten, die in Frankreich die staatliche Krankenkasse übernimmt. Kontaktpersonen berichten, dass sie erst Tage nach ihrer Begegnung mit einem Infizierten kontaktiert wurden. Statt fünf
Kontakten pro Infiziertem im Juli werden inzwischen nur noch zwei identifiziert. Die 2000 neuen Mitarbeiter, die Regierungschef Jean Castex vergangene Woche versprach, werden daran nicht viel ändern. Die App Stop Covid, die nur zwei Millionen Franzosen heruntergeladen haben, erwies sich als Flop: Sie gab nur 200 Warnungen an Kontaktpersonen heraus.
Auch die dritte Säule, das Isolieren der Patienten und ihrer Kontaktpersonen, ist wackelig. Die Quarantäne, die inzwischen auf sieben Tage verkürzt wurde, wird kaum überwacht. „Es ist notwendig, diese Leute zu begleiten, sie zu besuchen, sie jeden Tag anzurufen“, fordert der Epidemiologe William Dab in der Zeitung „Journal du Dimanche“. „Die französische Strategie ist immer noch nicht klar definiert.“Die Regierung fährt im Umgang mit dem Virus einen Zickzackkurs. Nachdem Präsident Emmanuel Macron im Frühjahr eine zweimonatige strenge Ausgangssperre verhängt hatte, ist er nun der Meinung, dass das Land mit dem Virus leben müsse. Hemdsärmelig zeigte er sich am Mittwoch bei der Tour de France, die trotz der Pandemie ausgetragen wurde.
Regierungschef Jean Castex schloss einen erneuten Lockdown aus und appellierte stattdessen an das Verantwortungsbewusstsein der Bürger. Die scheinen aber nach den zwei Monaten, in denen sie kaum das Haus verlassen durften, Nachholbedarf zu haben: Vor allem im Familienund Freundeskreis wird wieder kräftig gefeiert. Auf den Straßen der großen Städte und in den Büros herrscht Maskenpflicht, doch in Bars und Restaurants sitzen die Menschen dicht an dicht. Frankreich, wo mehr als 31 000 Menschen an Covid-19 starben, gehörte schon in der ersten Welle zu den am meisten betroffenen Ländern. Die hohe Zahl an Infektionen im Frühjahr ist dem Virologen Christian Drosten zufolge auch der Grund für die derzeitige Entwicklung. „Der französische Lockdown war aggressiver als unserer, aber möglicherweise ist da im Hintergrund mehr an Restinfektionsmasse übrig geblieben als bei uns“, sagte Drosten im NDR-Podcast.
IGrossbritannien
n hat sich die Zahl der nachgewiesenen Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 auf zuletzt 3395 pro Tag binnen vierzehn Tagen verdoppelt. Zu Wochenbeginn führte Premier Boris Johnson die neue Sechser-Regel ein: Private Treffen sind nur noch mit fünf anderen Menschen erlaubt. Seit Freitag gilt für große Teile Nordenglands mit mehr als zehn Millionen Menschen zusätzlich ein lokaler Lockdown. In Newcastle, Bolton und Durham sind nun private Kontakte mit anderen Haushalten verboten, Pubs und Restaurants schliessen um 22 Uhr. Schon spricht Gesundheitsminister Matthew Hancock von der Möglichkeit neuer landesweiter Beschränkungen. Am Donnerstag lag die Zahl der an Covid-19 Verstorbenen laut Gesundheitsministerium bei 41 705. Trotz vollmundiger Ankündigungen („Weltklasse“) hat die konservative Regierung bis heute keine funktionierende Warn-App vorgelegt. Auch die Nachverfolgung von Kontaktinfizierten gelingt bis heute nicht. In den hastig gegründeten Privatlabors herrscht Personalmangel. Wie so oft schieben Minister und Spitzenbeamte sich gegenseitig die Schuld zu. Im Juli hatte Hancock die Bevölkerung ausdrücklich auch bei geringen Symptomen dazu aufgefordert, sich einem Corona-Test zu unterziehen. Diese Woche machte er zu viele Testwillige dafür verantwortlich, dass das System vor dem Kollaps steht. Sebastian Borger, London
TItalien
äglich werden in zwischen 1 400 und 1 700 neue Covid-19-Infizierte gezählt. Dabei ist die norditalienische Region Lombardei längst nicht mehr das Epizentrum der Virusinfektion in Italien. Auch die mittelitalienische Region Latium mit der Hauptstadt Rom verzeichnet täglich einige Hundert Neuinfektionen. Die Zahl der nachgewiesenen Todesfälle ist derzeit gering, durchschnittlich zehn bis 15 Personen pro Tag. Noch reagiert Italiens Öffentlichkeit nicht nervös, auch nicht die Politik und die Gesundheitsbehörden. Es war damit gerechnet worden, dass infolge der Reisetätigkeiten während der Feriensaison die Infektionszahlen ansteigen würden. Nachweislich lassen sich die meisten Neuinfektionen zum einen auf die sogenannte Movida zurückführen, das enge Beieinanderstehen junger Menschen ohne Masken abends in und vor Kneipen, und zweitens auf Reiserückkehrer. Im Gegensatz zu Deutschland existiert keine lautstarke Anti-Covid-Bewegung. Zu einer Demo von Na-Vax und Maskengegnern am vergangenen Samstag in Rom kamen nur rund 1500 Menschen. Besorgniserregend ist der Umstand, dass jeden Tag nur rund 40 000 Italiener getestet werden, weshalb Experten davon ausgehen, dass die Zahl der Infizierten weitaus höher ist.
Thomas Migge, Rom