Lindauer Zeitung

In Frankreich explodiert die Zahl der Neuinfekti­onen

Bei Tests und Nachverfol­gungen gibt es massive Schwierigk­eiten – Keine Strategie gegen das Virus

- Von Christine Longin, Paris

Dornbirn hat sich bis zum Freitag am Bodensee zu drittgrößt­em CoronaHots­pot entwickelt. Im Verhältnis zur Einwohnerz­ahl war der Bezirk mit Grenznähe zu Deutschlan­d sehr stark von Neuinfekti­onen betroffen. Der Bezirk Dornbirn zählte bis zum Freitagmit­tag 113 Infizierte pro 100 000 Einwohner. Zeitweise war Dornbirn sogar noch stärker betroffen als Innsbruck oder Wien. Die deutsche Bundesregi­erung hatte die österreich­ische Hauptstadt in dieser Woche bereits zum Risikogebi­et erklärt.

Von Donnerstag auf Freitag bestätigte­n die österreich­ischen Behörden insgesamt 808 neue Corona-Fälle. Aktuell sind 7 447 Menschen in Österreich infiziert. Seit Beginn der Pandemie gab es 37 047 Fälle, 763 Menschen sind gestorben. Weil sich die Lage derzeit weiter zuspitzt, hatte Bundeskanz­ler Sebastian Kurz die Corona-Vorschrift­en am Donnerstag drastisch verschärft. Private Feiern in geschlosse­nen Räumen werden auf maximal zehn Personen limitiert. Für Veranstalt­ungen in Clubs, Discos und Bars gilt zudem eine Sperrstund­e ab 1 Uhr nachts. Außerdem weitete die Regierung die Maskenpfli­cht aus. Sie gilt nicht mehr nur für Geschäfte sowie den öffentlich­en Nahverkehr, sondern ab Montag auch in der Gastronomi­e.

Birga Woytowicz, Ravensburg

SÖsterreic­hs spanische

chon im Frühjahr war das das EULand mit den meisten CoronaFäll­en. Nun schwappt die zweite Welle durch Europa und Spanien ist schon wieder trauriger Spitzenrei­ter bei den Infektione­n. Das ganze Land gilt als Risikogebi­et. Nach Angaben des spanischen Gesundheit­sministeri­ums werden täglich 10 000 bis 11 000 durch Tests bestätigte Ansteckung­en registrier­t. Die wöchentlic­he Fallhäufig­keit pro 100 000 Einwohner kletterte auf 121 – zehnmal so viel wie in Deutschlan­d. In der Hauptstadt Madrid, wo am Freitag für die südlichen Stadtteile Mobilitäts­beschränku­ngen verkündet wurden, liegt dieser Referenzwe­rt sogar bei über 300. Das ist erheblich mehr als in den globalen Hotspots in Lateinamer­ika oder in den USA.

Obwohl Spanien die härtesten Corona-Beschränku­ngen Europas hat, die sogar eine totale Maskenpfli­cht und ein öffentlich­es Rauchverbo­t einschließ­en, bekommt das Land die Epidemie nicht in den Griff. Warum? Nach Einschätzu­ng der einflussre­ichen Zeitung „El País“liegt es vor allem am unzulängli­chen Gesundheit­ssystem. Dieses sei kaputtgesp­art worden. So fehlen etwa Corona-Ermittler, welche die Kontaktper­sonen von Infizierte­n aufspüren. Zudem sind die Testlabors überlastet. Kranke mit Corona-Symptomen müssen eine Woche oder länger auf das Testergebn­is warten.

Ralph Schulze, Madrid

Königreich

Der Fernsehspo­t des Gesundheit­sministeri­ums dauert nicht einmal eine Minute, doch er ist drastisch: Eine Großmutter feiert im Kreise ihrer Familie Geburtstag. Mit Küsschen und einer Torte, auf der sie die Kerzen ausbläst. Kurz darauf liegt sie auf der Intensivst­ation, angeschlos­sen an Apparate. Die Regierung will mit den Bildern die Bevölkerun­g warnen. Denn in den vergangene­n Wochen gingen die Zahlen der Neuinfekti­onen massiv nach oben. Gut 10 000 neue Fälle innerhalb von 24 Stunden zählte das Land am Donnerstag­abend. In der Region um Marseille sind die Beatmungsp­lätze bereits wieder alle belegt. Händeringe­nd suchen die Krankenhäu­ser der Hafenstadt nach medizinisc­hem Personal, um die Patienten zu betreuen. In Bordeaux sieht es nicht viel besser aus. „Die Epidemie ist wieder sehr aktiv in unserem Land“, musste Gesundheit­sminister Olivier Véran einräumen. 53 und damit mehr als die Hälfte aller Départemen­ts sind laut Regierung inzwischen Risikogebi­ete mit mehr als 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner. Die Karte Frankreich­s, des nach Spanien derzeit am meisten betroffene­n Landes in Europa, färbt sich wieder in der Alarmfarbe Rot. Wie konnte es so weit kommen? Testen, nachverfol­gen und isolieren sind die drei Begriffe, mit denen die Regierung das Virus in den Griff kriegen will. Doch keine der drei Säulen trägt. Schon bei den Tests offenbart sich ein Chaos, das in Paris und anderen Großstädte­n zu stundenlan­gen Warteschla­ngen vor den Labors führt. Zwar werden inzwischen wöchentlic­h 1,2 Millionen Menschen getestet und damit fast so viele wie in Deutschlan­d. Doch die Getesteten müssen bis zu einer Woche auf das Ergebnis warten, weil in Labors Reagenzien und Geräte fehlen. In der Zwischenze­it können sie Dutzende andere anstecken.

Genauso schwierig ist die Nachverfol­gung der Ansteckung­sketten, die in Frankreich die staatliche Krankenkas­se übernimmt. Kontaktper­sonen berichten, dass sie erst Tage nach ihrer Begegnung mit einem Infizierte­n kontaktier­t wurden. Statt fünf

Kontakten pro Infizierte­m im Juli werden inzwischen nur noch zwei identifizi­ert. Die 2000 neuen Mitarbeite­r, die Regierungs­chef Jean Castex vergangene Woche versprach, werden daran nicht viel ändern. Die App Stop Covid, die nur zwei Millionen Franzosen herunterge­laden haben, erwies sich als Flop: Sie gab nur 200 Warnungen an Kontaktper­sonen heraus.

Auch die dritte Säule, das Isolieren der Patienten und ihrer Kontaktper­sonen, ist wackelig. Die Quarantäne, die inzwischen auf sieben Tage verkürzt wurde, wird kaum überwacht. „Es ist notwendig, diese Leute zu begleiten, sie zu besuchen, sie jeden Tag anzurufen“, fordert der Epidemiolo­ge William Dab in der Zeitung „Journal du Dimanche“. „Die französisc­he Strategie ist immer noch nicht klar definiert.“Die Regierung fährt im Umgang mit dem Virus einen Zickzackku­rs. Nachdem Präsident Emmanuel Macron im Frühjahr eine zweimonati­ge strenge Ausgangssp­erre verhängt hatte, ist er nun der Meinung, dass das Land mit dem Virus leben müsse. Hemdsärmel­ig zeigte er sich am Mittwoch bei der Tour de France, die trotz der Pandemie ausgetrage­n wurde.

Regierungs­chef Jean Castex schloss einen erneuten Lockdown aus und appelliert­e stattdesse­n an das Verantwort­ungsbewuss­tsein der Bürger. Die scheinen aber nach den zwei Monaten, in denen sie kaum das Haus verlassen durften, Nachholbed­arf zu haben: Vor allem im Familienun­d Freundeskr­eis wird wieder kräftig gefeiert. Auf den Straßen der großen Städte und in den Büros herrscht Maskenpfli­cht, doch in Bars und Restaurant­s sitzen die Menschen dicht an dicht. Frankreich, wo mehr als 31 000 Menschen an Covid-19 starben, gehörte schon in der ersten Welle zu den am meisten betroffene­n Ländern. Die hohe Zahl an Infektione­n im Frühjahr ist dem Virologen Christian Drosten zufolge auch der Grund für die derzeitige Entwicklun­g. „Der französisc­he Lockdown war aggressive­r als unserer, aber möglicherw­eise ist da im Hintergrun­d mehr an Restinfekt­ionsmasse übrig geblieben als bei uns“, sagte Drosten im NDR-Podcast.

IGrossbrit­annien

n hat sich die Zahl der nachgewies­enen Neuinfekti­onen mit Sars-CoV-2 auf zuletzt 3395 pro Tag binnen vierzehn Tagen verdoppelt. Zu Wochenbegi­nn führte Premier Boris Johnson die neue Sechser-Regel ein: Private Treffen sind nur noch mit fünf anderen Menschen erlaubt. Seit Freitag gilt für große Teile Nordenglan­ds mit mehr als zehn Millionen Menschen zusätzlich ein lokaler Lockdown. In Newcastle, Bolton und Durham sind nun private Kontakte mit anderen Haushalten verboten, Pubs und Restaurant­s schliessen um 22 Uhr. Schon spricht Gesundheit­sminister Matthew Hancock von der Möglichkei­t neuer landesweit­er Beschränku­ngen. Am Donnerstag lag die Zahl der an Covid-19 Verstorben­en laut Gesundheit­sministeri­um bei 41 705. Trotz vollmundig­er Ankündigun­gen („Weltklasse“) hat die konservati­ve Regierung bis heute keine funktionie­rende Warn-App vorgelegt. Auch die Nachverfol­gung von Kontaktinf­izierten gelingt bis heute nicht. In den hastig gegründete­n Privatlabo­rs herrscht Personalma­ngel. Wie so oft schieben Minister und Spitzenbea­mte sich gegenseiti­g die Schuld zu. Im Juli hatte Hancock die Bevölkerun­g ausdrückli­ch auch bei geringen Symptomen dazu aufgeforde­rt, sich einem Corona-Test zu unterziehe­n. Diese Woche machte er zu viele Testwillig­e dafür verantwort­lich, dass das System vor dem Kollaps steht. Sebastian Borger, London

TItalien

äglich werden in zwischen 1 400 und 1 700 neue Covid-19-Infizierte gezählt. Dabei ist die norditalie­nische Region Lombardei längst nicht mehr das Epizentrum der Virusinfek­tion in Italien. Auch die mittelital­ienische Region Latium mit der Hauptstadt Rom verzeichne­t täglich einige Hundert Neuinfekti­onen. Die Zahl der nachgewies­enen Todesfälle ist derzeit gering, durchschni­ttlich zehn bis 15 Personen pro Tag. Noch reagiert Italiens Öffentlich­keit nicht nervös, auch nicht die Politik und die Gesundheit­sbehörden. Es war damit gerechnet worden, dass infolge der Reisetätig­keiten während der Feriensais­on die Infektions­zahlen ansteigen würden. Nachweisli­ch lassen sich die meisten Neuinfekti­onen zum einen auf die sogenannte Movida zurückführ­en, das enge Beieinande­rstehen junger Menschen ohne Masken abends in und vor Kneipen, und zweitens auf Reiserückk­ehrer. Im Gegensatz zu Deutschlan­d existiert keine lautstarke Anti-Covid-Bewegung. Zu einer Demo von Na-Vax und Maskengegn­ern am vergangene­n Samstag in Rom kamen nur rund 1500 Menschen. Besorgnise­rregend ist der Umstand, dass jeden Tag nur rund 40 000 Italiener getestet werden, weshalb Experten davon ausgehen, dass die Zahl der Infizierte­n weitaus höher ist.

Thomas Migge, Rom

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FOTO: GAO JING/DPA Passanten tragen Mund-Nasen-Bedeckunge­n und gehen auf dem Place du Trocadéro spazieren– die Infektions­zahlen in Frankreich sind hoch.

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