Warte noch ein Weilchen
Über die altmodische Geduld, die uns die Gegenwart abverlangt
Gut, dass man nie weiß, was wirklich kommt. Im März, als alle Schotten dicht gemacht wurden und wir mit unseren Ängsten allein zu Haus waren, tröstete man sich mit dem Zukunftsszenario des Trendforschers Matthias Horx. Der versprach der verzagten Volksseele, dass wir im September 2020, also jetzt, dankbar im Straßencafé sitzen und uns freuen, wie viel Gutes die zurückliegende Pandemie doch bewirkt haben würde. Tja, das war wohl nix. Covid-19 wütet weltweit heftiger denn je, viele Branchen sind ruiniert, statt Demut hat sich Krawallgeist breitgemacht. Da hilft nur eins: Alltagsmaske zurechtzupfen und weiter warten.
Im Homeoffice hocke ich und warte auf ein Wunder, den Impfstoff, die Rückkehr der unbefangenen Lebensart. Die Theater spielen mit abgesperrten Reihen vor vereinzelten maskierten Zuschauern und warten verzweifelt auf neue Öffnungen. Chöre proben mit Abstand im Park, sie warten vergeblich auf den großen Auftritt. Kinos stehen leer und warten auf den Untergang.
Wirte warten bang auf den Winter, wenn sie ihre Terrassen nicht mehr nutzen können. Man wartet täglich auf die Verlautbarungen des „Heute Journals“und darauf, dass die bösen weißen Männer an den Stellen der Macht endlich von guten Seelen abgelöst werden. Man träumt von unmöglichen Reisen und wartet auf die Öffnung der weiten Welt oder darauf, dass man weit entfernte Liebste endlich wiedersehen darf. Man wartet und wartet auf bessere Zeiten.
Nun ist die Fähigkeit zu warten nicht gerade eine Tugend, die wir eingeübt haben. Im Gegenteil: Wir haben gelernt, keine Zeit zu verschwenden, schnell zum Ziel und zum Ergebnis zu kommen, effizient zu sein, bei der Arbeit und in der Freizeit. Nicht rumstehen, trödeln, schwatzen! Stattdessen diskutieren, agieren, reüssieren! Zeit ist Geld, Leute! Seit jedermann und jede Frau über ein Smartphone verfügt, diese allzeit bereite Verbindung zu allen und allem anderen, werden auch die leeren Minuten in Wartezimmern, Warteschlangen oder an Haltestellen für Handel, Spiel und Kommunikation genutzt. Wer eine Nachricht aussendet, erwartet unverzüglich eine Antwort. Vorbei sind die Zeiten der langen Ungewissheiten, als man womöglich jahrelang auf einen Brief oder die Rückkehr abwesender Angehöriger warten musste.
Der Zustand des Wartens erscheint uns heute nahezu absurd wie in Samuel Becketts 1953 uraufgeführtem Theaterstück „Warten auf Godot“, an dem sich Generationen von Oberschülern abarbeiten mussten. Zwei Männer, oft als traurige Clowns gespielt, verplempern da ihre Zeit in Erwartung eines dritten, der niemals eintreffen wird. Der eine sagt: „Komm, wir gehen!“
Der andere: „Wir können nicht.“Der eine: „Warum nicht?“Der andere: „Wir warten auf Godot.“Hilfe! goutiert. Ungeduld ist in der Leistungsgesellschaft keine Schande. Damit darf sogar in Vorstellungsgesprächen kokettiert werden: „Meine schlechte Eigenschaft? Ich bin ungeduldig.“Gratuliere, das klingt nach Tatkraft und Entschlossenheit. Der aktive Erfolgstyp erreicht in der Regel zeitnah, was er anstrebt.
Normalerweise gibt es kaum noch Gründe, lang zu warten. Selbst die Bürokratie hat sich schon Anmeldesysteme ausgedacht, um Wartezeiten zu verkürzen oder transparent zu machen. Ein Zeitfenster wird reserviert, eine gezogene Nummer sorgt für Warte-Gerechtigkeit. Was Warten heißt, erleben wir allenfalls in der automatisierten Warteschleife einer sogenannten Hotline. Doch während sich der übliche Ansagetext wiederholt und nervtötende Musik dudelt, können wir ja das Handy ablegen und unsere Mails checken. Wir lassen die Zeit keineswegs ungenutzt verstreichen, nein, wir wollen keine Befreiung von unserer eigenen Emsigkeit.
Schon lange gibt es hier keine Mangelwirtschaft mehr, die nach dem Zweiten Weltkrieg oder in sozialistischen, vordigitalen Gesellschaftsformen das geduldige Anstehen für gewisse Waren einfach notwendig machte. Die Corona-Krise hat uns eine kleine Ahnung davon gegeben, als wir in der ersten, hysterischen Hamsterzeit des Lockdowns vor dem Supermarkt anstanden, um noch ein paar Rollen Klopapier oder eine Packung Spaghetti zu ergattern. Da konnten wir plötzlich wieder warten. Es blieb uns ja nichts anderes übrig.
Dass jetzt wieder genug Klopapier vorrätig ist und mehr Kunden auf einmal den Laden betreten dürfen, befreit uns aus der Warteschlange. Aber nicht vom großen absoluten Warten auf Erlösung von der Pandemie, auf ausgelassene Feste ohne Angst vor Ansteckung,
auf ein Ende der Kurzarbeit, auf Rummel und Reisen und darauf, dass die Menschheit vielleicht doch geläutert aus der Krise hervorgeht. Demnächst, bald, nächstes Jahr?
Wir müssen lernen, schrieb die amerikanische Psychologin Alexandra Woods Logue schon 1998 in ihrem vergriffenen Fachbuch „Der Lohn des Wartens“, wie man „die evolutionäre Impulsivität auf natürliche Weise in Geduld oder stärkere Selbstkontrolle verwandeln kann“. Das kennen wir ja aus Kung-Fu-Filmen mit charismatischen Meistern, die ihren Schülern beibringen, nie voreilig zuzuschlagen, sondern die Spannung bis zum richtigen Moment auszuhalten. Warten, geduldig sein. Um sich in Geduld zu üben, werden in Klöstern gleich welchen Glaubens von jeher alltägliche Dinge mit Demut und Achtsamkeit erledigt. Ich warte nicht dösig, ich kehre vor meiner Tür.
Frauenzeitschriften empfehlen uns Wartenden derzeit vermehrt Meditation sowie die Entfaltung eines Hobbys: Gärtnern (macht man leider sowieso), Fotografieren (auch nicht sehr originell) oder etwas ganz Kreatives: „Töpfern ist das neue Yoga“, lese ich da. Nun kann ich mir schlecht vorstellen, in meinem Wohnzimmer eine spritzende Scheibe mit feuchtem Ton zu drehen.
Aber ich besann mich auf die liebe Handarbeit, strickte bereits im Lockdown einen stocksteifen Schal für künftige sibirische Winter und habe letzte Woche mit zierlichen festen Maschen einen Flicken für den durchlöcherten Ärmel meines Morgenmantels gehäkelt. Das wäre mir nie eingefallen, wenn ich nicht vom Warten komplett zermürbt wäre.
Niemand weiß, wie lange der Zustand der Einschränkungen und der Ungewissheit noch anhalten wird. Wir können nur weiter warten und darauf hoffen, dass manche Kalendersprüche sich bewahrheiten. Wie meinte doch gleich der große Romancier des untergehenden Zarenreichs, Leo Tolstoi? „Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann.“