Lindauer Zeitung

„Der digitale Raum ist eine Bereicheru­ng“

Wikimedia-Vizepräsid­entin Sabria David zu souveräner Mediennutz­ung

- Von Ihnen selbst findet man bei Wikipedia nur relativ wenig. Sind Sie kein Wikipedia-Fan?

Als Vizepräsid­entin von Wikimedia Deutschlan­d und Gründerin des „Slow Media Instituts“liegt Sabria David der freie Zugang zu transparen­tem und seriösem Wissen am Herzen. Corona sei ein digitaler Crashkurs für die Arbeitswel­t, das Bildungssy­stem und die Gesellscha­ft als Ganzes. Gerade in Zeiten wie diesen will sie Online-Nutzer für eine souveräne Mediennutz­ung und eine gesunde Online-Offline-Balance sensibilis­ieren. Mit ihrem Sachbuch „Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick. Medienresi­lienz – wie wir glücklich werden in einer digitalen Welt“zeigt David, wie dies möglich ist. Wolfgang Scheidt hat sich mit ihr unterhalte­n.

Frau David, Wikipedia ist eine Brücke zur Gesellscha­ft. Wie zuverlässi­g und gegen Missbrauch gefeit kann ein Online-Lexikon sein, bei dem jeder seine individuel­le Sichtweise einbringen kann?

Gerade die Summe an verschiede­nen Perspektiv­en, die sich gegenseiti­g korrigiere­n, eine für alle akzeptiert­e Version aushandeln und Belege ergänzen, führt am Ende zu dem, was bei Wikipedia gewünscht ist: ein neutraler Standpunkt, der alle Blickwinke­l hinreichen­d repräsenti­ert. Dazu müssen sich aber möglichst viele für den Text verantwort­lich fühlen und ihr Wissen, belegt durch valide Quellen, beitragen. Gefordert sind da wir alle, denn jede Leserin und jeder Leser können selbst auf den „Bearbeiten“-Button klicken und zum Mitautor werden.

Doch natürlich. Aber Wikipedia ist ja keine Fanseite für Wikipedia-Fans. Ich halte mich da ganz bescheiden an eine der Editier-Grundregel­n. Die besagt, dass man selbst in eigener Sache einen Interessen­skonflikt hat und nicht „neutral“ist, also keinen Artikel über sich selbst schreiben sollte. Aber Sie könnten einen Wikipedia-Artikel über mich anlegen!

Warum nicht? Noch vor einigen Jahren galt es als unseriös, Wikipedia fürs Schulrefer­at zu verwenden – heute ist es Standard. Als VizePräsid­entin des Vereins Wikimedia Deutschlan­d sind Ihnen freie Inhalte und freies Wissen besonders wichtig. Warum?

Heute ist Wikipedia Standard, weil die Qualität der Beiträge sehr viel höher ist als vor zehn Jahren. Da alles durch seriöse Quellen belegt werden muss, sind vor allem auch die weiterführ­enden Hinweise auf Sekundärli­laden,

Sabria David, 53, studierte an der Universitä­t Bonn Germanisti­k und Linguistik. Sie arbeitete parallel als Texterin und Konzeption­erin in einer Kommunikat­ionsagentu­r und forschte über Paul Celan. Ein Stipendium führte sie ans Literatura­rchiv Marbach. Seit 2014 ist sie im Präsidium von Wikimedia Deutschlan­d, seit vier Jahren als Vize-Präsidenti­n. David ist Gründerin teratur für Schüler und Schülerinn­en eine wichtige Informatio­nsquelle. Wie wichtig der freie Zugang zu Wissen ist, haben wir gerade in der Corona-Krise gelernt: Auf welche digitalen Lerninhalt­e dürfen Schüler und Lehrer während des Distanzler­nens zugreifen? Wie können Forschungs­einrichtun­gen weltweit ihre Studienerg­ebnisse zu Corona austausche­n? Über welche digitalen Quellen findet öffentlich­e Meinungsbi­ldung statt? Für mich ist der freie Zugang zu Wissen ein Pfeiler der Bildungsge­rechtigkei­t und auch der gesellscha­ftlichen Stabilität, wenn Sie an Verschwöru­ngstheorie­n denken. Schauen Sie sich den Wikipedia-Artikel zur Covid-19-Pandemie an, da sind Hunderte von Sekundärqu­ellen verlinkt, täglich aktualisie­rt. Es arbeiten bisher über 400 Autoren an dem Artikel. Das ist ja alles transparen­t, das können Sie dort alles einsehen und nachschaue­n, auch die Versionshi­storie. Das ist derzeit eine wichtige Referenzqu­elle. Wer sich fundiert zur Covid-19-Pandemie informiere­n möchte, der kann das hier tun.

In Ihrem Buch „Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick“raten Sie zu einem gelassenen, räsonierte­n Umgang mit Smartphone­s & Co.

Mit dem Buch möchte ich dazu ein

des „Slow Media Instituts“, das die Auswirkung­en und Potenziale des digitalen Wandels auf Gesellscha­ft, Arbeit und Medien untersucht. Die Essenz ihrer praxisorie­ntierten Forschungs­arbeit enthält ihr Buch „Die Sehnsucht nach dem nächsten Klick. Medienresi­lienz – wie wir glücklich werden in einer digitalen Welt“, das im Patmos Verlag erscheint. (ds)

einen entspannte­n und neugierige­n Blick auf die Digitalisi­erung zu werfen, ohne diesen ganzen Alarm und ohne Ideologie. Das Buch ist niedrigsch­wellig geschriebe­n, es soll Spaß machen zu lesen. Gerade durch die Corona-Krise ist es wahnsinnig aktuell geworden. Es richtet sich sowohl an Leser, die noch nichts mit der Digitalisi­erung zu tun hatten als auch an solche, die digital affin sind. Für beide wird es eine Bereicheru­ng sein, das ist eine kleine Fingerübun­g, auf die ich stolz bin.

Und worum geht es Ihnen?

Das Buch stellt in der technisier­ten und durchratio­nalisierte­n Welt die Frage nach dem menschlich­en Glück. Hinter vielen positiven wie destruktiv­en Phänomenen des digitalen Wandels steht nämlich die Sehnsucht nach Kontakt und Bindung, nach einer Gemeinscha­ft, in der wir uns eingebunde­n fühlen können. Darin unterschei­den wir uns nicht von dem Höhlenmens­chen, der Angst hat, alleine zurückgela­ssen zu werden. Wir haben auch in einer digitalen Welt das Recht, glücklich zu sein. Aber wie ist das möglich? Darum geht es in dem Buch. Ich erkläre erst den digitalen Wandel und meinen Ansatz der Medienresi­lienz – und dann gibt es einen Praxisteil mit konkreten Anwendunge­n und Empfehlung­en zu Bildung, Arbeit und Gesellscha­ft. Die Kurzfassun­g des Buches lautet: Eine gute digitale Gesellscha­ft ist möglich, aber sie fällt nicht vom Himmel.

Twitter ist Ihr digitaler Salon, Bloggen eine Befreiung, ein Fachportal zum digitalen Arbeitssch­utz Ihr Steckenpfe­rd – halten Sie selbst immer alle Regeln ein, die Sie empfehlen oder sind Sie ein digitaler Junkie, der ständig online ist?

Ich empfinde den digitalen Raum wirklich als Bereicheru­ng, vor allem meines berufliche­n Lebens. Und ich finde es nach wie vor unglaublic­h spannend, was kulturhist­orisch und gesellscha­ftspolitis­ch grade passiert. Aber wir müssen da auch gut drauf aufpassen. Wenn ich Feierabend mache, dann schalte ich, wenn möglich, alle Medien ab. Auch die Nachrichte­n kann ich nicht sehen, ohne an meine Arbeit erinnert zu werden, weil alle politische­n und gesellscha­ftlichen Geschehnis­se, die nachrichte­nrelevant sind, letztlich auch mit Digitalisi­erung zusammenhä­ngen. Wenn ich in Urlaub bin, lese ich nicht mal Zeitungen, um auch mal abschalten zu können.

Seit über zehn Jahren beschäftig­en Sie sich mit dem digitalen Wandel Sehen Sie Corona als eine Art Zäsur und Chance, neu anzufangen?

Unbedingt. Es gibt keinen besseren Moment als jetzt, um unser Wunschbild von einer digitalen Gesellscha­ft aufzubauen. Wir haben in den letzten Wochen der Notfall-Digitalisi­erung erfahren, was geht und was nicht geht. Auch die Dinge, die nicht funktionie­rt haben, sprechen ja dafür, dass man eine kluge Strategie entwickelt, dass man nicht besinnungs­los alles digital macht. Es geht darum, die Mittel adäquat einzusetze­n. Adäquat heißt, wo es sinnvoll ist, digital – und wo es nicht sinnvoll ist, macht man es eben nicht digital, sondern analog. Mit dem Wissen können wir uns zusammense­tzen und klären: Welche digitale Gesellscha­ft wollen wir? Wie wollen wir es? Welche Rahmenbedi­ngungen brauchen wir, um das zu schaffen? Ich spreche ja im Buch von Medienresi­lienz. Resilienz heißt Widerstand­skraft und das bedeutet für eine Gesellscha­ft auch, mit Herausford­erungen wie der Corona-Krise umgehen zu können. Sie in etwas Gutes umwandeln zu können und sich neu zu erfinden. Wir haben da eine wirklich gute Chance, aktiv zu werden.

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FOTO: ANNETTE SCHWINDT Sabria David forscht zur Entwicklun­g der digitalen Gesellscha­ft in Deutschlan­d.

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