Keine Rücksicht auf den letzten Willen
Tod von Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg löst Debatte um ihre Nachfolge aus – Trump will Ernennung noch vor der Wahl
- „Für immer berüchtigt“, steht in blauen Kreidebuchstaben auf dem Pflaster. „Danke, Ruth!“ist ein paar Meter weiter zu lesen, neben einer Zeichnung, die ein schmales Gesicht mit großen Brillengläsern zeigt, auf dem Kopf eine Krone und am Hals den Kragen einer Richterrobe. Mütter haben ihre Töchter mitgebracht, gemeinsam knien sie nun auf dem Bürgersteig am Supreme Court, dort, wo die imposante Freitreppe des Gerichtsgebäudes endet und wo sich im Laufe des Wochenendes Tausende versammeln, um in andächtiger Stille Abschied von Ruth Bader Ginsburg zu nehmen. Auffallend viele Frauen und Mädchen sind gekommen, um eine Tote zu ehren, die für sie, so verkünden es auch etliche Plakate, ein Vorbild war. „When there are nine“– den Spruch sieht man immer wieder. Er geht zurück auf den Auftritt an einer Uni, als Ginsburg die Frage, wie viele Frauen denn in der Neunerrunde der Höchstrichter sitzen müssten, damit sie zufrieden sei, mit leisem Lächeln so beantwortete: „Wenn es neun sind.“
Ruth Bader Ginsburg war Kult. Sie war mehr als eine Verfassungsrichterin, nämlich eine Identifikationsfigur für das linksliberale Amerika. Für ihre Fans war sie „The Notorious RBG“, die berüchtigte RBG. Ein Spitzname, der die augenzwinkernde Ironie verriet, die sie so mochte. Launig verglich man die zierliche Dame mit Biggie
Smalls alias „Notorious BIG“, einem schwergewichtigen Rapper, der wie sie aus Brooklyn stammte. Kinofilme beschäftigen sich mit ihrer Karriere. Ginsburg gilt als Vorreiterin für Frauenrechte und liberale Denkweisen. Für die Gleichberechtigung ging sie als junge Juristin aber nicht auf die Straße: Stattdessen leistete sie als Richterin Pionierarbeit bei der Entwicklung von Gesetzen gegen die Diskriminierung von Frauen. Den Kampf gegen den Krebs hat sie am Freitag verloren, es war das vierte Mal in ihrem Leben, dass sie gegen das Leiden anzukämpfen hatte.
Um zu verstehen, was der Tod dieser Feministin in der dunklen Robe bedeutet, muss man sich die delikate
Kräftebalance am Supreme Court vor Augen führen. Fünf eher konservativen Richtern standen bis zu Ginsburgs Ableben vier eher progressive gegenüber, was wiederum mit den Politikern zu tun hat, von denen sie ernannt wurden. Republikanische Präsidenten entsenden in aller Regel Juristen, die die Verfassung eng auslegen, oft wortwörtlich nehmen, was im 18. Jahrhundert zu Papier gebracht wurde. Demokratische Präsidenten entscheiden sich meist für Richter, die gesellschaftliche Veränderungen auch in der Rechtsprechung widergespiegelt sehen wollen. Etwa dann, wenn das Recht auf privaten Waffenbesitz, verankert in der Ära der Musketen, nicht einschränkungslos für eine Zeit gelten könne, in der Waffenläden Schnellfeuergewehre verkaufen. Falls Trump zum Zug kommt und einen Nachfolger bestimmt, würden die Gewichte zugunsten der Republikaner verschoben, womöglich für sehr lange Zeit. Dann stünden den drei Progressiven gleich sechs Konservative gegenüber, und da Verfassungsrichter auf Lebenszeit ernannt werden, dürfte es dauern, bis es wieder ein Gleichgewicht gäbe. Urteile wie die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen oder die 2015 gesetzlich verankerte staatliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen könnten dann wieder infrage gestellt werden.
Als Staatschef hat Trump das Recht, Ersatz für einen verstorbenen Richter vorzuschlagen. Der oder die Nominierte muss dann vom Senat mit einfacher Mehrheit bestätigt werden. Da die Republikaner 53 der 100 Senatoren stellen, ist durchaus vorstellbar, dass es Trump gelingt, schnell noch jemanden durchzusetzen. Um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, müssten sich mindestens vier Republikaner mit den Demokraten verbünden und einen Aufschub des Verfahrens fordern. Zwei, Susan Collins und Lisa Murkowski, haben dies bereits angekündigt. Ob sich weitere anschließen, weiß momentan niemand seriös zu sagen. Dass Trump seinerseits zur Eile drängt, hat er bereits am Tag nach Ginsburgs Tod deutlich gemacht. Die Republikaner, twitterte er, seien an der Macht, damit sie im Sinne der Leute, die sie gewählt hätten, Entscheidungen träfen. Und als wichtigste Entscheidung habe stets die Auswahl der Verfassungsrichtern gegolten. Ein solches Manöver auf den letzten Metern vor der Wahl wäre aber auch deshalb umstritten, weil die Konservativen einen Präzedenzfall geschaffen haben. Vor vier Jahren weigerten sie sich, einen Kandidaten, den der Präsident Obama nach dem Tod des Supreme-Court-Veteranen Antonin Scalia im Februar 2016 ernannt hatte, auch nur anzuhören. Dank ihrer Majorität in der Senatskammer gelang es ihnen, jenen Merrick Garland so lange auszubremsen, bis Trump im Weißen Haus einzog und sich der Fall erledigt hatte.
Damals hieß es, wenn ein Höchstrichter neun Monate vor der Wahl das Zeitliche segne, müsse man das Wahlergebnis abwarten, bevor ein Nachfolger bestimmt werden dürfe. Joe Biden hat prompt noch einmal an das Kapitel erinnert und betont, dass diesmal die gleichen ungeschriebenen Regeln zu gelten hätten. Die Wähler, sagte er, sollten den Präsidenten bestimmen, „dann sollte der Präsident den Richter bestimmen, den der Senat anschließend zu prüfen hat“. Ginsburg selbst hatte laut einem Bericht des Senders NPR wenige Tage vor ihrem Tod ihrer Enkelin ihren „letzten Willen“diktiert: „Mein sehnlichster Wunsch ist, dass ich nicht ersetzt werde, bis ein neuer Präsident eingesetzt wurde.“