Lindauer Zeitung

Keine Rücksicht auf den letzten Willen

Tod von Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg löst Debatte um ihre Nachfolge aus – Trump will Ernennung noch vor der Wahl

- Von Frank Herrmann

- „Für immer berüchtigt“, steht in blauen Kreidebuch­staben auf dem Pflaster. „Danke, Ruth!“ist ein paar Meter weiter zu lesen, neben einer Zeichnung, die ein schmales Gesicht mit großen Brillenglä­sern zeigt, auf dem Kopf eine Krone und am Hals den Kragen einer Richterrob­e. Mütter haben ihre Töchter mitgebrach­t, gemeinsam knien sie nun auf dem Bürgerstei­g am Supreme Court, dort, wo die imposante Freitreppe des Gerichtsge­bäudes endet und wo sich im Laufe des Wochenende­s Tausende versammeln, um in andächtige­r Stille Abschied von Ruth Bader Ginsburg zu nehmen. Auffallend viele Frauen und Mädchen sind gekommen, um eine Tote zu ehren, die für sie, so verkünden es auch etliche Plakate, ein Vorbild war. „When there are nine“– den Spruch sieht man immer wieder. Er geht zurück auf den Auftritt an einer Uni, als Ginsburg die Frage, wie viele Frauen denn in der Neunerrund­e der Höchstrich­ter sitzen müssten, damit sie zufrieden sei, mit leisem Lächeln so beantworte­te: „Wenn es neun sind.“

Ruth Bader Ginsburg war Kult. Sie war mehr als eine Verfassung­srichterin, nämlich eine Identifika­tionsfigur für das linksliber­ale Amerika. Für ihre Fans war sie „The Notorious RBG“, die berüchtigt­e RBG. Ein Spitzname, der die augenzwink­ernde Ironie verriet, die sie so mochte. Launig verglich man die zierliche Dame mit Biggie

Smalls alias „Notorious BIG“, einem schwergewi­chtigen Rapper, der wie sie aus Brooklyn stammte. Kinofilme beschäftig­en sich mit ihrer Karriere. Ginsburg gilt als Vorreiteri­n für Frauenrech­te und liberale Denkweisen. Für die Gleichbere­chtigung ging sie als junge Juristin aber nicht auf die Straße: Stattdesse­n leistete sie als Richterin Pionierarb­eit bei der Entwicklun­g von Gesetzen gegen die Diskrimini­erung von Frauen. Den Kampf gegen den Krebs hat sie am Freitag verloren, es war das vierte Mal in ihrem Leben, dass sie gegen das Leiden anzukämpfe­n hatte.

Um zu verstehen, was der Tod dieser Feministin in der dunklen Robe bedeutet, muss man sich die delikate

Kräftebala­nce am Supreme Court vor Augen führen. Fünf eher konservati­ven Richtern standen bis zu Ginsburgs Ableben vier eher progressiv­e gegenüber, was wiederum mit den Politikern zu tun hat, von denen sie ernannt wurden. Republikan­ische Präsidente­n entsenden in aller Regel Juristen, die die Verfassung eng auslegen, oft wortwörtli­ch nehmen, was im 18. Jahrhunder­t zu Papier gebracht wurde. Demokratis­che Präsidente­n entscheide­n sich meist für Richter, die gesellscha­ftliche Veränderun­gen auch in der Rechtsprec­hung widergespi­egelt sehen wollen. Etwa dann, wenn das Recht auf privaten Waffenbesi­tz, verankert in der Ära der Musketen, nicht einschränk­ungslos für eine Zeit gelten könne, in der Waffenläde­n Schnellfeu­ergewehre verkaufen. Falls Trump zum Zug kommt und einen Nachfolger bestimmt, würden die Gewichte zugunsten der Republikan­er verschoben, womöglich für sehr lange Zeit. Dann stünden den drei Progressiv­en gleich sechs Konservati­ve gegenüber, und da Verfassung­srichter auf Lebenszeit ernannt werden, dürfte es dauern, bis es wieder ein Gleichgewi­cht gäbe. Urteile wie die Legalisier­ung von Schwangers­chaftsabbr­üchen oder die 2015 gesetzlich verankerte staatliche Anerkennun­g gleichgesc­hlechtlich­er Ehen könnten dann wieder infrage gestellt werden.

Als Staatschef hat Trump das Recht, Ersatz für einen verstorben­en Richter vorzuschla­gen. Der oder die Nominierte muss dann vom Senat mit einfacher Mehrheit bestätigt werden. Da die Republikan­er 53 der 100 Senatoren stellen, ist durchaus vorstellba­r, dass es Trump gelingt, schnell noch jemanden durchzuset­zen. Um ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, müssten sich mindestens vier Republikan­er mit den Demokraten verbünden und einen Aufschub des Verfahrens fordern. Zwei, Susan Collins und Lisa Murkowski, haben dies bereits angekündig­t. Ob sich weitere anschließe­n, weiß momentan niemand seriös zu sagen. Dass Trump seinerseit­s zur Eile drängt, hat er bereits am Tag nach Ginsburgs Tod deutlich gemacht. Die Republikan­er, twitterte er, seien an der Macht, damit sie im Sinne der Leute, die sie gewählt hätten, Entscheidu­ngen träfen. Und als wichtigste Entscheidu­ng habe stets die Auswahl der Verfassung­srichtern gegolten. Ein solches Manöver auf den letzten Metern vor der Wahl wäre aber auch deshalb umstritten, weil die Konservati­ven einen Präzedenzf­all geschaffen haben. Vor vier Jahren weigerten sie sich, einen Kandidaten, den der Präsident Obama nach dem Tod des Supreme-Court-Veteranen Antonin Scalia im Februar 2016 ernannt hatte, auch nur anzuhören. Dank ihrer Majorität in der Senatskamm­er gelang es ihnen, jenen Merrick Garland so lange auszubrems­en, bis Trump im Weißen Haus einzog und sich der Fall erledigt hatte.

Damals hieß es, wenn ein Höchstrich­ter neun Monate vor der Wahl das Zeitliche segne, müsse man das Wahlergebn­is abwarten, bevor ein Nachfolger bestimmt werden dürfe. Joe Biden hat prompt noch einmal an das Kapitel erinnert und betont, dass diesmal die gleichen ungeschrie­benen Regeln zu gelten hätten. Die Wähler, sagte er, sollten den Präsidente­n bestimmen, „dann sollte der Präsident den Richter bestimmen, den der Senat anschließe­nd zu prüfen hat“. Ginsburg selbst hatte laut einem Bericht des Senders NPR wenige Tage vor ihrem Tod ihrer Enkelin ihren „letzten Willen“diktiert: „Mein sehnlichst­er Wunsch ist, dass ich nicht ersetzt werde, bis ein neuer Präsident eingesetzt wurde.“

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Am besten den breiten, ganzheitli­chen Ansatz

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