Lindauer Zeitung

Furioser Auftakt des Filmfestiv­als in San Sebastián

„Akelarre“über die Hexenjagd begeistert Publikum – Woody Allen eröffnet mit dem sehenswert­en „Rifkin’s Festival“

- Von Rüdiger Suchsland

- Ein Schriftste­ller verliebt sich in seine schöne Ärztin, eine Universitä­tsdozentin sucht bei einem Russen Befreiung aus dem Alltagstro­tt, ein paar befreundet­e Lehrer finden diese im Alkohol, und ein Großinquis­itor verguckt sich in eine Hexe: verborgene Leidenscha­ften, die Sehnsucht nach Exzess und das Räderwerk der Moralapost­el. Diese Themen und ihre variantenr­eiche filmische Umsetzung bestimmen einen furiosen Auftakt an den ersten Tagen des Filmfestiv­als von San Sebastián.

Seit seiner Gründung vor über 60 Jahren zählt das Filmfestiv­al im nordspanis­chen San Sebastián zu den bedeutends­ten Filmfestiv­als der Welt. Es stand für symbolisch­en und realen kulturelle­n Widerstand im repressive­n Franco-Spanien und ist immer noch eine Institutio­n der kulturelle­n Eigenständ­igkeit des Baskenland­s.

In diesem Jahr gehört San Sebastián eindeutig zu den Gewinnern. Denn das Festival ist nach Venedig das zweite große Kulturerei­gnis der Filmwelt, das tatsächlic­h stattfinde­t: real vor Ort, im Kino mit Zuschauern. Natürlich ist vieles anders: Es gibt weniger Gäste, die internatio­nalen Stars bleiben aus und im Alltag herrschen die üblichen Auflagen wie Abstand halten, Maskenpfli­cht im Kino und regelmäßig­e Desinfekti­on. Allemal prägen die Corona-Beschränku­ngen das Leben in Spanien stärker als bei uns. Doch der Begeisteru­ng der Kinofans (hier kann jeder Bürger Karten kaufen) wie der profession­ellen Festivalbe­sucher tut all das keinen Abbruch.

Vor allem aber werden gute Filme gezeigt. Denn San Sebastián profitiert diesmal auch vom Ausfall des Filmfestiv­als von Cannes im Frühjahr. Mindestens zehn jener hochkaräti­gen Filme, die Cannes eingeladen hätte, laufen jetzt hier und verwandeln die malerische Concha-Bucht in diesem Jahr in eine spätsommer­liche Croisette.

Eröffnet wurde mit dem neuesten Film von Woody Allen: „Rifkin’s

Festival“besitzt den doppelten Charme, in San Sebastián gedreht worden zu sein (woran die baskische Tourismusb­ehörde ihre helle Freude haben dürfte), und zugleich auf einem Filmfestiv­al zu spielen – womit auch der Narzissmus der Filmbranch­e bedient wird. Auch sonst ist Allens neuer Film ein Lichtblick im Spätwerk des New Yorker Stadtneuro­tikers. Im Zentrum steht Rifkin (Wallace Shawn), eine Art Alter Ego des Regisseurs: ein erfolgreic­her Schriftste­ller und Filmdozent, von Selbstzwei­feln gequält. Als Festivalga­st verliebt er sich in eine spanische Ärztin, zugleich verfolgt er eifersücht­ig seine Frau, von der er vermutet, sie habe eine Affäre mit einem französisc­hen Autorenfil­mer.

All das erzählt Allen als virtuoses Spiel mit der Filmgeschi­chte. Denn fortwähren­d tagträumt Rifkin sein Leben in Szenen großer Filmklassi­ker, die Allen und sein Kameramann Vittorio Storaro dann in so liebevolle­n wie ironischen Referenzen an Allens Lieblingsr­egisseure Welles, Bergman, Buñuel, Godard und Truffaut

in Filmbilder fassen. Mit diesen Seitenblic­ken auf die Filmgeschi­chte und großen Darsteller­n wie Christoph Waltz und Louis Garrel war „Rifkin’s Festival“allemal ein würdiger Eröffnungs­film.

Insgesamt gab es an den ersten Tagen leichtere, auch witzigere Filme zu sehen als vor Kurzem in Venedig – was nicht heißt, dass sie keinen Tiefgang hätten. So erzählt der Däne Thomas Vinterberg in überrasche­nder Weise von vier befreundet­en Lehrern in der Midlife-Crisis. „Another Round“beginnt in den ersten Minuten so, dass man ein moraltrief­endes Alkoholike­rdrama erwartet, verwandelt sich aber bald in eine beschwingt­e Komödie über Exzess und Freiheit.

Als sich die vier Männer bei einer Geburtstag­sfeier ordentlich betrinken, starten sie ein Experiment: Sie nehmen die These mancher Wissenscha­ftler (es gibt sie wirkich!) wörtlich, nach der ständiger Alkoholkon­sum dem Menschen gut tut, und trinken von morgens vor der Arbeit bis um 20 Uhr regelmäßig. Tatsächlic­h beflügelt das ihren Unterricht, das Ganze gerät aber zwischendu­rch auch aus dem Ruder. Doch Vinterberg lässt alles heiter enden. Am Schluss tanzt Hauptdarst­eller Mads Mikkelsen beschwingt über die ganze Leinwand. Wenn es einen Männerfilm gibt, dann ist es dieser.

Das Pendant dazu bildet „Passion Simple“von Danielle Arbid. Die Französin hat Annie Ernauxs gleichnami­ge Novelle verfilmt: Eine Universitä­tsdozentin hat eine leidenscha­ftliche Affäre mit einem jüngeren, intellektu­ell unterlegen­en Russen – und verliert sich fast darüber. Der Film ist ein K(l)ammerspiel, das in manchen Sequenzen wie die Karikatur eines französisc­hen Liebesfilm­s wirkt, dann aber durch großartige Auftritte der beiden Hauptdarst­eller besticht. Laetitia Dosch ist eine Entdeckung, Sergei Polunin ein berühmter Tänzer, der an der Pariser Oper bereits für mehr als einen Skandal gut war.

Eine Entdeckung neben diesen etablierte­n Namen ist der Argentinie­r Pablo Aguero. Sein an der baskischen Küste gedrehter Film „Akelarre“war die Überraschu­ng der ersten Tage. Im Jahr 1609 wütete die spanische Inquisitio­n und drangsalie­rte die baskischen Fischerdör­fer. Weil die Männer auf See waren, drohte hier kein Widerstand.

Aber sechs Mädchen versuchen ihrem sicheren Tod zu entgehen, indem sie dem Großinquis­itor liefern, was er vermutlich will: Informatio­nen über den Teufel. Wie Scheheraza­de schmücken sie ihre Erzählung aus und verlängern sie ins Endlose. Irgendwann ist der Inquisitor ihnen verfallen und sie können fliehen.

Der für Netflix produziert­e Film lebt von seinen Darsteller­n (der Deutsche Alex Brendemühl als Inquisitor) und seinem traditione­llen baskischen Gesang, der tatsächlic­h bezirzende Wirkung entfaltet. Und dem Thema Hexenjagd mit seiner Frage: Wie verhält man sich vor dem allmächtig­en Verfolger? Die inquisitor­ischen Fragen zu Sex, Gewalt und der Macht der Blicke wirken heute vor dem Hintergrun­d unserer Debatten extrem aktuell.

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FOTO: FESTSPIELE Der Film „Akelarre“über Hexenjagd im Baskenland des Jahres 1609 war die Überraschu­ng der ersten Tage auf dem Filmfestiv­al.

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