Das Stück zur Wohnungsnot
Das Schauspiel Stuttgart startet mit der Uraufführung von Thomas Melles „Die Lage“in die neue Saison
- Nachbarn können sehr lästig sein. Deshalb hat die Hausgemeinschaft neue Sonderauflagen beschlossen. Kaufinteressenten müssen vorab ins Schlaflabor und ein Schnarchdiplom vorlegen. „Und sind Sie laut als Paar?“, fragt der Makler beim Besichtigungstermin frei heraus und lässt die Paare erst einmal stöhnen. Man will schließlich wissen, mit welchen Lustschreien man nächtens zu rechnen hat.
Die Wohnungsnot ist eines der großen Themen dieser Zeit, und das hat sich der derzeit viel gespielte Autor Thomas Melle vorgenommen. Immobilienpreise, die ins Unerschwingliche steigen wegen knallharter Investoren, die die alten Mieter harsch hinaussanieren. „Die Lage“heißt Melles neues Stück, das nun im Kammertheater Stuttgart uraufgeführt wurde und wie in einer Dauerschleife Wohnungsbesichtigungen zeigt, bei denen die immergleichen Suchenden von Termin zu Termin hasten – und ja doch kaum Chancen haben, je eines dieser überteuerten Objekte zu erhaschen. Neue Fenster, den ganzen Tag über Sonne – „ein Traum“juchzt der Makler, allerdings ein unerreichbarer.
Mit der Uraufführung von „Die Lage“hat das Schauspiel Stuttgart die neue Spielzeit eingeläutet. Doch es ist ein eher trauriger Neustart nach der Sommerpause. Gerade mal 38 Zuschauer dürfen sich im Kammertheater auf den 200 Plätzen verteilen. Wegen Kurzarbeit wurde das Programm der Württembergischen Staatstheater abgespeckt und der Spielplan vorerst nur bis Jahresende festgeklopft. An diesem Wochenende sollte auch der Europäische Dramatikerpreis verliehen werden, die weltweit höchstdotierte Auszeichnung für Theaterautoren. Weil die Preisträger aus dem Ausland hätten anreisen müssen, wurde das kurzfristig verschoben.
Immerhin, auf der Bühne des Kammertheaters fällt es dem fünfköpfigen Ensemble nicht schwer, Abstand zu halten. Der Bühnenbildner Stefan Hageneier hat eine riesige Luxusküche konzipiert, mit Terrasse hinter großen Fensterfronten und einer meterlangen Küchenzeile, um die die Interessenten tänzeln wie um einen Altar. Es ist eine dieser sterilen Edelimmobilien, die ein perfektes Leben versprechen. Deshalb will der Vormieter (Boris Burgstaller) sie auch nicht verlassen. Erst flatterte ihm nach 16 Jahren eine einstweilige Verfügung ins
Haus, dann machten die Bauarbeiter ihm mit ihrem ewigen Bohren und Hämmern und Stauben das Leben zur Hölle. Trotzdem ist er nicht ausgezogen, sondern hat sich kurzerhand mit seinem Schlafsack unter der Küchenzeile einquartiert und schreit Maklern und Interessenten nun bei jeder Gelegenheit entgegen: „Für euch ist es auch bald vorbei.“
Thomas Melle trägt in „Die Lage“die verschiedenen Facetten eines Systems zusammen, das Wohnen zur schieren Unmöglichkeit macht. Da geht es ums Erben, um Geld, das „nichts kostet“, oder den „Verdrängungskampf auch auf den Brachen“. Dabei liefert Melle allerdings keine wirklich neuen Perspektiven auf die längst bekannten Phänomene „Gentrifizierung“oder „Lüge des Eigenbedarfs“. Am besten ist sein Stück immer dann, wenn er sich drastische Zuspitzungen erlaubt – und das WG-Casting (Jannik Mühlenweg) zum Psychoterror ausartet oder die Wohnungsbesichtigung einem Verhör gleicht. Am besten würde das Thema vermutlich als grelle Farce taugen. Wohl deshalb hat Melle seinen Vielklang an Stimmen angereichert durch Beziehungsdramen. Einmal sticht eine Frau ihrem Partner in der Luxusküche im Eifer das Auge mit ihrem Pfennigabsatz aus. Komisch ist das allerdings nicht.
Die Regisseurin Tina Lanik hat versucht, ein Zukunftsszenario zu skizzieren, in dem sie die Figuren mit blondierten Haaren zeitweise unterkühlt, ja fast roboterhaft agieren lässt. Auf die Fensterfronten werden verschiedene Stadtansichten projiziert. Die Jalousien fahren auf und ab, das Licht wird immer wieder heller und dunkler, doch hinter diesem Verlegenheitsaktivismus will kein rechtes Konzept aufblitzen.
Am Ende stehen die Bewerber buchstäblich mit heruntergelassenen Hosen wie vor einem Tribunal. Ausgeliefert und nackt versuchen sie, mit ihrer Selbstbeschreibung die Herzen derer zu erweichen, denen der Wohnungsmarkt unangemessen viel Macht verschafft hat. „Das war sehr gut“, sagt die Maklerin (Josephine Köhler) lobend. Die Wohnung werden die Kandidaten vermutlich trotzdem nicht bekommen. „Ohne Rührung keine Vorstellung, ohne Vorstellung keine Wohnung.“
Weitere Aufführungen bis 4. Dezember. Kartentelefon 07112020 90. Infos unter www.schauspiel-stuttgart.de.