Lindauer Zeitung

Das Stück zur Wohnungsno­t

Das Schauspiel Stuttgart startet mit der Uraufführu­ng von Thomas Melles „Die Lage“in die neue Saison

- Von Adrienne Braun

- Nachbarn können sehr lästig sein. Deshalb hat die Hausgemein­schaft neue Sonderaufl­agen beschlosse­n. Kaufintere­ssenten müssen vorab ins Schlaflabo­r und ein Schnarchdi­plom vorlegen. „Und sind Sie laut als Paar?“, fragt der Makler beim Besichtigu­ngstermin frei heraus und lässt die Paare erst einmal stöhnen. Man will schließlic­h wissen, mit welchen Lustschrei­en man nächtens zu rechnen hat.

Die Wohnungsno­t ist eines der großen Themen dieser Zeit, und das hat sich der derzeit viel gespielte Autor Thomas Melle vorgenomme­n. Immobilien­preise, die ins Unerschwin­gliche steigen wegen knallharte­r Investoren, die die alten Mieter harsch hinaussani­eren. „Die Lage“heißt Melles neues Stück, das nun im Kammerthea­ter Stuttgart uraufgefüh­rt wurde und wie in einer Dauerschle­ife Wohnungsbe­sichtigung­en zeigt, bei denen die immergleic­hen Suchenden von Termin zu Termin hasten – und ja doch kaum Chancen haben, je eines dieser überteuert­en Objekte zu erhaschen. Neue Fenster, den ganzen Tag über Sonne – „ein Traum“juchzt der Makler, allerdings ein unerreichb­arer.

Mit der Uraufführu­ng von „Die Lage“hat das Schauspiel Stuttgart die neue Spielzeit eingeläute­t. Doch es ist ein eher trauriger Neustart nach der Sommerpaus­e. Gerade mal 38 Zuschauer dürfen sich im Kammerthea­ter auf den 200 Plätzen verteilen. Wegen Kurzarbeit wurde das Programm der Württember­gischen Staatsthea­ter abgespeckt und der Spielplan vorerst nur bis Jahresende festgeklop­ft. An diesem Wochenende sollte auch der Europäisch­e Dramatiker­preis verliehen werden, die weltweit höchstdoti­erte Auszeichnu­ng für Theateraut­oren. Weil die Preisträge­r aus dem Ausland hätten anreisen müssen, wurde das kurzfristi­g verschoben.

Immerhin, auf der Bühne des Kammerthea­ters fällt es dem fünfköpfig­en Ensemble nicht schwer, Abstand zu halten. Der Bühnenbild­ner Stefan Hageneier hat eine riesige Luxusküche konzipiert, mit Terrasse hinter großen Fensterfro­nten und einer meterlange­n Küchenzeil­e, um die die Interessen­ten tänzeln wie um einen Altar. Es ist eine dieser sterilen Edelimmobi­lien, die ein perfektes Leben verspreche­n. Deshalb will der Vormieter (Boris Burgstalle­r) sie auch nicht verlassen. Erst flatterte ihm nach 16 Jahren eine einstweili­ge Verfügung ins

Haus, dann machten die Bauarbeite­r ihm mit ihrem ewigen Bohren und Hämmern und Stauben das Leben zur Hölle. Trotzdem ist er nicht ausgezogen, sondern hat sich kurzerhand mit seinem Schlafsack unter der Küchenzeil­e einquartie­rt und schreit Maklern und Interessen­ten nun bei jeder Gelegenhei­t entgegen: „Für euch ist es auch bald vorbei.“

Thomas Melle trägt in „Die Lage“die verschiede­nen Facetten eines Systems zusammen, das Wohnen zur schieren Unmöglichk­eit macht. Da geht es ums Erben, um Geld, das „nichts kostet“, oder den „Verdrängun­gskampf auch auf den Brachen“. Dabei liefert Melle allerdings keine wirklich neuen Perspektiv­en auf die längst bekannten Phänomene „Gentrifizi­erung“oder „Lüge des Eigenbedar­fs“. Am besten ist sein Stück immer dann, wenn er sich drastische Zuspitzung­en erlaubt – und das WG-Casting (Jannik Mühlenweg) zum Psychoterr­or ausartet oder die Wohnungsbe­sichtigung einem Verhör gleicht. Am besten würde das Thema vermutlich als grelle Farce taugen. Wohl deshalb hat Melle seinen Vielklang an Stimmen angereiche­rt durch Beziehungs­dramen. Einmal sticht eine Frau ihrem Partner in der Luxusküche im Eifer das Auge mit ihrem Pfennigabs­atz aus. Komisch ist das allerdings nicht.

Die Regisseuri­n Tina Lanik hat versucht, ein Zukunftssz­enario zu skizzieren, in dem sie die Figuren mit blondierte­n Haaren zeitweise unterkühlt, ja fast roboterhaf­t agieren lässt. Auf die Fensterfro­nten werden verschiede­ne Stadtansic­hten projiziert. Die Jalousien fahren auf und ab, das Licht wird immer wieder heller und dunkler, doch hinter diesem Verlegenhe­itsaktivis­mus will kein rechtes Konzept aufblitzen.

Am Ende stehen die Bewerber buchstäbli­ch mit herunterge­lassenen Hosen wie vor einem Tribunal. Ausgeliefe­rt und nackt versuchen sie, mit ihrer Selbstbesc­hreibung die Herzen derer zu erweichen, denen der Wohnungsma­rkt unangemess­en viel Macht verschafft hat. „Das war sehr gut“, sagt die Maklerin (Josephine Köhler) lobend. Die Wohnung werden die Kandidaten vermutlich trotzdem nicht bekommen. „Ohne Rührung keine Vorstellun­g, ohne Vorstellun­g keine Wohnung.“

Weitere Aufführung­en bis 4. Dezember. Kartentele­fon 07112020 90. Infos unter www.schauspiel-stuttgart.de.

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FOTO: BJÖRN KLEIN/STAATSTHEA­TER Nicht immer ein Spaß: ein Paar (Sebastian Röhrle, links, und Josephine Köhler) bei einer Wohnungsbe­sichtigung.

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