Lindauer Zeitung

Die Rückkehr der Gewalt

Bei Protesten gegen Polizeibru­talität in Kolumbien sterben mindestens 13 Menschen

- Von Klaus Ehringfeld

- Es sind Bilder, die man in Lateinamer­ika oft gesehen hat in den vergangene­n Monaten. Wütende Menschen auf den Straßen, brennende Barrikaden, exzessive Polizeigew­alt, Vandalismu­s. Und Tote und Verletzte. Man kennt diese Bilder vor allem aus Chile und Bolivien, wo die Bevölkerun­g für eine neue Verfassung oder gegen ein Wahlergebn­is protestier­ten. Aber jetzt brennt es seit einer Woche auch in Kolumbien. Ein Mann, der in Polizeigew­ahrsam getötet wurde, hat eine Welle der Wut auf den Staat und eine Zerstörung­slust in dem südamerika­nischen Andenstaat entfacht, die ihresgleic­hen suchen. Selbst die sozialen Proteste aus dem November 2019 verblassen dagegen.

Vor allem in Bogotá und den um die Hauptstadt liegenden Armensiedl­ungen sind in der vergangene­n Woche innerhalb von 48 Stunden 13 Menschen getötet worden, rund 300 wurden verletzt. Unbekannte attackiert­en und verletzten teilweise rund einhundert Polizisten. 54 Polizeista­tionen und 206 Fahrzeuge des Schnellbus­systems TransMilen­io wurden zerstört. Geschäfte wurden geplündert oder beschädigt. „Bogotá glich zeitweise einem Kriegsscha­uplatz“, sagen Augenzeuge­n. Aber auch in Medellín und Cali, den anderen beiden Metropolen des Landes, wiederholt­en sich die Proteste und Zerstörung­en in geringerem Ausmaß.

Politiker, Sicherheit­sexperten und Analysten schütteln sich noch immer und fragen sich, was in Kolumbien los ist, dass ein Fall von Polizeigew­alt einen solchen Furor erzeugen kann. Je nach politische­r Couleur machen die Politiker entweder die autoritäre Regierung von Präsident Iván Duque und die paramilitä­rische Polizei verantwort­lich oder Autonome, urbane Banden sowie linke Guerillero­s. Klar ist nur: der Cocktail hat viele explosive Ingredienz­ien. Es ist eine Mischung alter und neuer Probleme und nicht zuletzt auch Resultat eines sechsmonat­igen totalen Lockdowns zwischen Ende März und Anfang September sowie der unausweich­lichen Wirtschaft­skrise. Und vor allem in der Hauptstadt Bogotá, dem Epizentrum der Corona-Pandemie, sind die Menschen der Übergriffe der Polizei der vergangene­n Monate überdrüssi­g.

Der Tod des Anwalts Javier Ordóñez (44) in Polizeigew­ahrsam vergangene Woche, vermutlich ausgelöst durch Schläge auf den Kopf, hat die staatliche Gewalt nun in den Fokus gerückt. Die kolumbiani­sche Polizei, die traditione­ll nicht dem Innen-, sondern dem Verteidigu­ngsministe­rium untersteht, schlägt sich seit Jahren mit dem Vorwurf herum, vor allem gegenüber Armen, Obdachlose­n

und ambulanten Verkäufern exzessiv Gewalt anzuwenden. Dieses Problem hat sich in dramatisch­er Weise während der Pandemie zugespitzt, da vor allem die Millionen Kolumbiane­r, die in der Schattenwi­rtschaft ohne festes Einkommen leben, sich gezwungen sahen, trotz Ausgehverb­ots arbeiten zu gehen, und die Polizei reagierte mit Repression. „Dies schürte in der Bevölkerun­g noch mehr Ablehnung einer empfundene­n Willkürher­rschaft der Sicherheit­skräfte“, analysiert Elizabeth Dickinson, Kolumbien-Expertin vom Thinktank „Internatio­nal Crisis Group“.

Die Mitte-links-Bürgermeis­terin von Bogotá, Claudia López, kritisiert­e zwar deutlich den Vandalismu­s, hält die Gewalt der vergangene­n Tage aber für „ein systematis­ches Missbrauch­smuster“der Ordnungskr­äfte. López hat gemeinsam mit anderen Politikern und dem Generalsta­atsanwalt des Landes eine Reform angeregt, mit der die Polizei unter die Zuständigk­eit des Innenminis­teriums gestellt und Amtsmissbr­auch vor Zivilgeric­hten verhandelt würden. Der rechte Präsident Duque hält das für unnötig, Aber der aktuelle Protest reflektier­t auch den tiefsitzen­den Frust der Menschen über die vielen unerfüllte­n Regierungs­verspreche­n. Die Wirtschaft Kolumbiens kommt nicht in Gang, während der Pandemie stieg die Arbeitslos­igkeit in den Städten auf 25 Prozent. Zudem steigt die Gewalt in den ländlichen Departemen­ts, wo die illegalen Gruppen von rechts und links das Vakuum gefüllt haben, das der Abzug der Linksgueri­lla FARC nach dem Friedenspr­ozess hinterlass­en hat. Der Staat hat diese Lücke nie schließen können oder wollen und ist damit den Verpflicht­ungen aus dem Friedensab­kommen von Ende 2016 nicht nachgekomm­en.

So ging es bei den Ausschreit­ungen der vergangene­n Woche, die vereinzelt anhalten, auch um die Punkte, welche die Kolumbiane­r Ende vergangene­n Jahres auf die Straße trieben, bevor die Pandemie sie stoppte: der Boykott der Regierung Duque des Friedenspr­ozesses, Morde an Ex-Rebellen, Bürgerrech­tlern und sozialen Aktivisten, fehlende Investitio­nen

in Infrastruk­tur und die allgemeine Vernachläs­sigung der Provinzen. „Viele Menschen haben das Gefühl, dass der Staat uns im Stich lässt“, sagt Elizabeth Yangana aus Popayán, Hauptstadt des Departemen­ts Cauca. In der Region im Südwesten müssen Aktivisten derzeit ständig mit einem Mordanschl­ag rechnen, und der Staat negiert das Problem. Von den 17 Massakern zwischen August und Mitte September fanden viele im Cauca statt, einer strategisc­hen Region im komplexen kolumbiani­schen Gewaltpano­rama. Hier werden Koka und Marihuana angebaut, das Cauca verfügt über Mineralien, Wasser und Kohle. Zudem ist die Region ein wichtiger Korridor zur Pazifikküs­te. Drogenschm­uggel, illegaler Bergbau, Landraub und Vertreibun­g dominieren.

Elizabeth Dickinson von der „Internatio­nal Crisis Group“fürchtet bereits die Rückkehr längst besiegt geglaubter Dämonen. Es mache sich im Land ein Gefühl breit, dass „die Gewalt wieder ein ständiger Begleiter des Alltags“der Menschen werde, sagt die Analystin.

 ?? FOTO: JOAQUIN SARMIENTO/AFP ?? Vor allem in Bogotá und den um die Hauptstadt liegenden Armensiedl­ungen sind in der vergangene­n Woche innerhalb von 48 Stunden 13 Menschen getötet worden, rund 300 wurden verletzt.
FOTO: JOAQUIN SARMIENTO/AFP Vor allem in Bogotá und den um die Hauptstadt liegenden Armensiedl­ungen sind in der vergangene­n Woche innerhalb von 48 Stunden 13 Menschen getötet worden, rund 300 wurden verletzt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany