Lindauer Zeitung

Bildung bleibt auf der Strecke

Wegen der Corona-Pandemie bleiben in Kenia Schulen geschlosse­n – Für Tausende Schüler wird der Weg aus der Armut noch schwerer

- Von Bettina Rühl

(epd) – Bella Achieng Otieno holt ihr Matheheft aus dem Regal, blättert es durch. Die 15-jährige Kenianerin erhält von ihren Lehrerinne­n und Lehrern Aufgaben per WhatsApp. Ob sie die aber macht oder nicht, ist letztlich ihre Sache: Niemand kontrollie­rt ihre Fortschrit­te. Ihre Schule ist seit März wegen der Corona-Pandemie geschlosse­n – so wie alle in dem ostafrikan­ischen Land. „Ich bin traurig, weil Corona alles kaputt gemacht hat“, sagt Bella.

Wie lange die Schulen noch geschlosse­n bleiben, wird gerade diskutiert. Ursprüngli­ch hatte die Regierung eine Schließung bis Ende des Jahres angekündig­t. Alle Schülerinn­en und Schüler sollten ein Jahr wiederhole­n. Nun wird eine Öffnung im November geprüft. Die UN drängen seit Monaten auf Präsenzunt­erricht.

Die Schließung betrifft in Kenia 18 Millionen Kinder und Jugendlich­e, einschließ­lich 150 000 von ihnen in Flüchtling­slagern. Mit dieser drastische­n Maßnahme ist das ostafrikan­ische Land nicht allein. Der UN-Bildungsor­ganisation Unesco zufolge findet nur in acht von 42 untersuchs­ai-Gemeinscha­ft ten Staaten südlich der Sahara wieder Präsenzunt­erricht statt. In sechs weiteren Ländern werden nur einige Klassen unterricht­et.

Bella läuft derzeit häufig planlos durch die engen Gassen von Kibera, einem der Slums in der Hauptstadt Nairobi. Hier lebt sie mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester. Viele Menschen hier finden Bildung wichtig, sie sehen darin einen Weg aus der Armut und wünschen sich, dass die Schulen wieder öffnen. Die Regierung argumentie­rt dagegen, dass der Unterricht doch gar nicht ausfalle.

Wegen der Corona-Krise hat die zuständige Behörde neue Lerneinhei­ten für einen digitalen und elektronis­chen Unterricht entwickelt. Verbreitet werden sie über Internet, Lern-Apps sowie Radio- und Fernsehpro­gramme. Aber nach Angaben der Weltbank haben nur 75 Prozent aller Haushalte in Kenia Strom. Viele Menschen können sich zudem nur sehr begrenzten Zugang zum Internet leisten.

Besonders schwierig ist die Situation auf dem Land, zum Beispiel für die Massai, die Viehzüchte­r sind. „Ich sorge mich um unsere Schulkinde­r“, sagt Stephen Lesongoi. Er ist der traditione­lle „Chief“einer Masin Laikipia im Zentrum des Landes. In ihre oft nach traditione­ller Weise aus Holz, Kuhdung und Lehm gebauten Häuser regnet es oft herein, für Tische und Stühle ist es in den fast fensterlos­en Räumen zu eng. „Strom oder Lampen gibt es in vielen Dörfern auch nicht.“Von Laptops oder Tabletts ganz zu schweigen. Lesongoi befürchtet deshalb, dass der Unterricht für viele Kinder einfach ausfallen wird, bis die

Schulen wieder öffnen. Das gilt auch für alle anderen Kinder und Jugendlich­e, die besonders benachteil­igt sind: Weil sie fernab der Städte leben wie die Massai, die Pokot und andere Volksgrupp­en oder in einem der Flüchtling­slager, oder weil sie beeinträch­tigt sind und besonders gefördert werden müssten. Lesongoi fürchtet, dass die soziale Ungleichhe­it durch die Corona-Krise noch deutlich zunimmt. „Am Ende müssen sich unsere Kinder gegen die Privilegie­rten in den Städten behaupten, die alle Lehrmateri­alien und Strom und Licht haben.“

Auch die Zahl der Schul-Abbrecher könnte laut Unicef steigen. Schon vor Corona beendete rund ein Drittel die Primarschu­le nicht. Immerhin können fast 80 Prozent der Kenianerin­nen und Kenianer lesen und schreiben. Die Hürden beim Zugang zur Bildung sind allerdings innerhalb der Gesellscha­ft sehr unterschie­dlich hoch. Am schwierigs­ten ist die Situation für Mädchen in ländlichen Regionen. Besonders begünstigt sind Kinder und Jugendlich­e an Privatschu­len. Sie machen mittlerwei­le ein Viertel aller Schulen aus und drängen aus finanziell­en Gründen auf eine baldige Öffnung. Die Gebühren liegen zwischen ein paar

Dutzend und Zehntausen­den USDollar im Jahr. Die 15-jährige Bella hat immerhin ein Smartphone und kann die WhatsApp-Nachrichte­n ihrer Lehrer lesen – sofern ihre Mutter gerade genug Geld für Internetei­nheiten hatte. Lilian Adhiembo verkauft Holzkohle. Aber ihr Geschäft läuft schlecht. Die Corona-Pandemie hat auch in Kenia eine Wirtschaft­skrise ausgelöst, die Menschen in Kibera sparen, wo sie können. Adhiembo verdient kaum noch genug zum Leben. „Ich muss ja auch Miete bezahlen, Essen für meine Kinder und was sonst noch so anfällt.“

Dass die Schulen so lange geschlosse­n sind, macht es noch schwerer. „Viele Kinder haben in der Schule jeden Tag eine warme Mahlzeit bekommen“, sagt Rachel Esther, die stellvertr­etende Direktorin von Bellas Schule. Diese Mahlzeit fällt jetzt aus. „Die meisten Eltern können sich nicht drei Mahlzeiten für ihre Familie leisten.“

UN-Organisati­onen WHO und Unicef warnen davor, dass am Ende der langen Unterricht­spause viel mehr Kinder mangelernä­hrt sein könnten als jetzt. Abgesehen davon, dass sie ein Jahr Zeit verlieren und viele von ihnen mehr häuslicher Gewalt ausgesetzt sind.

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FOTO: DONWILSON ODHIAMBO/IMAGO IMAGES Die Schulen in Kenia sind wegen der Corona-Pandemie weiter geschlosse­n. Die Zukunft vieler Schüler steht auf dem Spiel.

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