Aufnehmen oder beim Abschieben helfen
Ein Reformvorschlag zur EU-Flüchtlingspolitik soll den Streit der Mitgliedsstaaten beenden
- Seit Jahren versucht die EU vergeblich, die Folgen der Fluchtbewegungen gerechter zu verteilen und das System effizienter, humaner und schneller zu gestalten. Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen machte das Vorhaben zu einem ihrer Hauptanliegen. Monatelang konsultierte sie Flüchtlingsorganisationen und Politiker der Mitgliedsstaaten, mehrfach wurde das Vorhaben vertagt. Jetzt hat von der Leyen zusammen mit den dafür zuständigen Kommissaren aus Griechenland und Schweden, Margaritis Schinas und Ylva Johansson, den Entwurf vorgestellt.
Warum soll der neue Reformvorschlag mehr Erfolg versprechen, als vorangegangene?
Die EU gibt den seit Jahren vertretenen Anspruch auf, dass sich alle Mitgliedsstaaten an der Aufnahme und Integration hilfsbedürftiger Migranten beteiligen sollen. In der Vergangenheit waren mehrere Reformversuche des Dublin-Systems, das den Mitgliedsstaat in die Pflicht nimmt, wo Flüchtlinge zuerst europäischen Boden betreten, an mangelnder Solidarität gescheitert. Zunächst hatte Deutschland, später dann die osteuropäischen Mitgliedsstaaten, eine Umverteilung nach einem Quotensystem nicht akzeptieren wollen. Nun will die Kommission aufnahmeunwilligen Staaten einen Ausweg eröffnen. Sie sollen sich zwar nicht freikaufen können, ihre Quote aber dadurch erfüllen dürfen, dass sie bei der Abschiebung abgelehnter Asylbewerber helfen – in sogenannten Rückführungspatenschaften.
Ist das das Ende von Dublin?
Nein. Noch immer obliegt der erste Schritt dem Land, in dem ein Geflüchteter ankommt. Dort wird er wie jetzt schon registriert – allerdings soll die Prozedur deutlich gründlicher ausfallen als bisher. Zusätzlich zu den Fingerabdrücken und der Prüfung, ob schon anderswo Asyl beantragt wurde, kommt ein Gesundheitscheck und eine Sicherheitsabfrage. Der Vorgang soll nicht länger als fünf Tage dauern. Vertreter von Menschenrechtsorganisationen sollen sicherstellen, dass keine Rechte verletzt werden. Danach wird gesiebt. Antragsteller aus Ländern mit einer Anerkennungsquote unter 20 Prozent durchlaufen ein Schnellverfahren – es sei denn, sie sind unter 12 Jahre alt oder haben schwere gesundheitliche Probleme. Diejenigen mit guten Aussichten auf Asyl werden umverteilt. Nach maximal drei Monaten soll der gesamte Vorgang abgeschlossen sein.
Welche Elemente sind neu?
Menschen, die in einem EU-Land Familienangehörige nachweisen können oder gute Gründe haben, sich aufgrund von Sprachkenntnissen oder beruflichen Qualifikationen für ein bestimmtes Land zu bewerben, durchlaufen das ausführliche Asylverfahren dort. Für Einreisende mit
Visum ist das Land zuständig, das die Berechtigung ausgestellt hat. Bootsflüchtlinge werden nach einem Quotensystem umverteilt. Die Quote greift auch, wenn aufgrund einer akuten Notsituation plötzlich sehr viele Menschen in einem EU-Land eintreffen. Wer keine Flüchtlinge haben will, muss sich stärker bei Abschiebungen engagieren.
Warum soll nun funktionieren, was jahrelang in der Praxis als nicht durchführbar galt?
Die EU-Kommission hat schon viele Anläufe unternommen, die Verfahren zu straffen, Abschiebungen zu beschleunigen und besser mit den Herkunfts- und Drittstaaten zusammenzuarbeiten. 2,6 Milliarden Euro flossen in den vergangenen Jahren allein nach Griechenland, um dort zu helfen. 400 EU-Beamte sind derzeit auf Lesbos im Einsatz. Das hat nicht verhindert, dass dort zeitweise bis zu 25 000 Menschen in einem völlig überfüllten Lager zusammengepfercht waren – viele von ihnen monatelang. In der Praxis lässt sich oft nicht feststellen, aus welchem Land ein Geflüchteter stammt oder Rückführungen werden seitens des Herkunftslandes boykottiert – denn die Geldzuwendungen von Migranten an die Familie daheim leisten in vielen Drittländern einen wertvollen Beitrag zum Bruttosozialprodukt. Mit 24 Ländern hat die EU inzwischen Rückführungsabkommen geschlossen, ohne dass sich die Prozeduren nennenswert beschleunigt hätten.
Was genau ist eine Rückführungspatenschaft?
Mit diesem Schachzug versucht die Kommission, den ewigen Blockierern aus dem Lager von Victor Orbán den Wind aus den Segeln zu nehmen. Seit Jahren machen die osteuropäischen Regierungschefs klar, dass sie keine Flüchtlinge aufnehmen wollen und stattdessen auf Abschreckung und Rückführung setzen. Nun sollen sie selbst umsetzen, was sie andern stets empfehlen. Wenn zum Beispiel die italienische Regierung es nicht schafft, abgelehnte Asylbewerber zurück nach Nordafrika zu schicken, soll sich eben Ungarn darum kümmern. Die Botschaft vor Ort soll auf die Herkunftsregierung Druck ausüben und sicherstellen, dass der Rückkehrer einreisen darf. Ungarn soll den Abschiebeflug organisieren und finanzieren.
Hat der Vorschlag Realisierungschancen?
Länder wie Zypern, Malta, Italien und Griechenland, die derzeit die Hauptlast tragen, werden jede Reform begrüßen, die ihre Lage verbessert. Allerdings werden sie die dominante Rolle von EU-Beamten und der Grenzschutzagentur Frontex ebenso mit gemischten Gefühlen sehen wie die Kontrolle durch Menschenrechtsorganisationen. Auch solidaritätswillige Länder wie Deutschland, Frankreich, Schweden oder Luxemburg dürften der Idee zustimmen, dass sich künftig alle an den Folgekosten der Wanderungsbewegungen beteiligen sollen. Die Osteuropäer werden ihr Veto schon deshalb einlegen, weil mit der Reform größere Kosten auf sie zukämen.