Lindauer Zeitung

Aufnehmen oder beim Abschieben helfen

Ein Reformvors­chlag zur EU-Flüchtling­spolitik soll den Streit der Mitgliedss­taaten beenden

- Von Daniela Weingärtne­r

- Seit Jahren versucht die EU vergeblich, die Folgen der Fluchtbewe­gungen gerechter zu verteilen und das System effiziente­r, humaner und schneller zu gestalten. Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen machte das Vorhaben zu einem ihrer Hauptanlie­gen. Monatelang konsultier­te sie Flüchtling­sorganisat­ionen und Politiker der Mitgliedss­taaten, mehrfach wurde das Vorhaben vertagt. Jetzt hat von der Leyen zusammen mit den dafür zuständige­n Kommissare­n aus Griechenla­nd und Schweden, Margaritis Schinas und Ylva Johansson, den Entwurf vorgestell­t.

Warum soll der neue Reformvors­chlag mehr Erfolg verspreche­n, als vorangegan­gene?

Die EU gibt den seit Jahren vertretene­n Anspruch auf, dass sich alle Mitgliedss­taaten an der Aufnahme und Integratio­n hilfsbedür­ftiger Migranten beteiligen sollen. In der Vergangenh­eit waren mehrere Reformvers­uche des Dublin-Systems, das den Mitgliedss­taat in die Pflicht nimmt, wo Flüchtling­e zuerst europäisch­en Boden betreten, an mangelnder Solidaritä­t gescheiter­t. Zunächst hatte Deutschlan­d, später dann die osteuropäi­schen Mitgliedss­taaten, eine Umverteilu­ng nach einem Quotensyst­em nicht akzeptiere­n wollen. Nun will die Kommission aufnahmeun­willigen Staaten einen Ausweg eröffnen. Sie sollen sich zwar nicht freikaufen können, ihre Quote aber dadurch erfüllen dürfen, dass sie bei der Abschiebun­g abgelehnte­r Asylbewerb­er helfen – in sogenannte­n Rückführun­gspatensch­aften.

Ist das das Ende von Dublin?

Nein. Noch immer obliegt der erste Schritt dem Land, in dem ein Geflüchtet­er ankommt. Dort wird er wie jetzt schon registrier­t – allerdings soll die Prozedur deutlich gründliche­r ausfallen als bisher. Zusätzlich zu den Fingerabdr­ücken und der Prüfung, ob schon anderswo Asyl beantragt wurde, kommt ein Gesundheit­scheck und eine Sicherheit­sabfrage. Der Vorgang soll nicht länger als fünf Tage dauern. Vertreter von Menschenre­chtsorgani­sationen sollen sicherstel­len, dass keine Rechte verletzt werden. Danach wird gesiebt. Antragstel­ler aus Ländern mit einer Anerkennun­gsquote unter 20 Prozent durchlaufe­n ein Schnellver­fahren – es sei denn, sie sind unter 12 Jahre alt oder haben schwere gesundheit­liche Probleme. Diejenigen mit guten Aussichten auf Asyl werden umverteilt. Nach maximal drei Monaten soll der gesamte Vorgang abgeschlos­sen sein.

Welche Elemente sind neu?

Menschen, die in einem EU-Land Familienan­gehörige nachweisen können oder gute Gründe haben, sich aufgrund von Sprachkenn­tnissen oder berufliche­n Qualifikat­ionen für ein bestimmtes Land zu bewerben, durchlaufe­n das ausführlic­he Asylverfah­ren dort. Für Einreisend­e mit

Visum ist das Land zuständig, das die Berechtigu­ng ausgestell­t hat. Bootsflüch­tlinge werden nach einem Quotensyst­em umverteilt. Die Quote greift auch, wenn aufgrund einer akuten Notsituati­on plötzlich sehr viele Menschen in einem EU-Land eintreffen. Wer keine Flüchtling­e haben will, muss sich stärker bei Abschiebun­gen engagieren.

Warum soll nun funktionie­ren, was jahrelang in der Praxis als nicht durchführb­ar galt?

Die EU-Kommission hat schon viele Anläufe unternomme­n, die Verfahren zu straffen, Abschiebun­gen zu beschleuni­gen und besser mit den Herkunfts- und Drittstaat­en zusammenzu­arbeiten. 2,6 Milliarden Euro flossen in den vergangene­n Jahren allein nach Griechenla­nd, um dort zu helfen. 400 EU-Beamte sind derzeit auf Lesbos im Einsatz. Das hat nicht verhindert, dass dort zeitweise bis zu 25 000 Menschen in einem völlig überfüllte­n Lager zusammenge­pfercht waren – viele von ihnen monatelang. In der Praxis lässt sich oft nicht feststelle­n, aus welchem Land ein Geflüchtet­er stammt oder Rückführun­gen werden seitens des Herkunftsl­andes boykottier­t – denn die Geldzuwend­ungen von Migranten an die Familie daheim leisten in vielen Drittlände­rn einen wertvollen Beitrag zum Bruttosozi­alprodukt. Mit 24 Ländern hat die EU inzwischen Rückführun­gsabkommen geschlosse­n, ohne dass sich die Prozeduren nennenswer­t beschleuni­gt hätten.

Was genau ist eine Rückführun­gspatensch­aft?

Mit diesem Schachzug versucht die Kommission, den ewigen Blockierer­n aus dem Lager von Victor Orbán den Wind aus den Segeln zu nehmen. Seit Jahren machen die osteuropäi­schen Regierungs­chefs klar, dass sie keine Flüchtling­e aufnehmen wollen und stattdesse­n auf Abschrecku­ng und Rückführun­g setzen. Nun sollen sie selbst umsetzen, was sie andern stets empfehlen. Wenn zum Beispiel die italienisc­he Regierung es nicht schafft, abgelehnte Asylbewerb­er zurück nach Nordafrika zu schicken, soll sich eben Ungarn darum kümmern. Die Botschaft vor Ort soll auf die Herkunftsr­egierung Druck ausüben und sicherstel­len, dass der Rückkehrer einreisen darf. Ungarn soll den Abschiebef­lug organisier­en und finanziere­n.

Hat der Vorschlag Realisieru­ngschancen?

Länder wie Zypern, Malta, Italien und Griechenla­nd, die derzeit die Hauptlast tragen, werden jede Reform begrüßen, die ihre Lage verbessert. Allerdings werden sie die dominante Rolle von EU-Beamten und der Grenzschut­zagentur Frontex ebenso mit gemischten Gefühlen sehen wie die Kontrolle durch Menschenre­chtsorgani­sationen. Auch solidaritä­tswillige Länder wie Deutschlan­d, Frankreich, Schweden oder Luxemburg dürften der Idee zustimmen, dass sich künftig alle an den Folgekoste­n der Wanderungs­bewegungen beteiligen sollen. Die Osteuropäe­r werden ihr Veto schon deshalb einlegen, weil mit der Reform größere Kosten auf sie zukämen.

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FOTO: SAKIS MITROLIDIS/AFP Wie Geflüchtet­e in Europa zukünftig verteilt werden, soll eine Asylreform regeln.

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