Lindauer Zeitung

Die Macht der Swing States

Einen Monat vor der US-Präsidents­chaftswahl richtet sich das Augenmerk auf besonders umkämpfte Bundesstaa­ten wie Wisconsin

- Von Frank Herrmann, Milwaukee

Chris Walton sitzt in einem penibel aufgeräumt­en Büro und erzählt davon, wie er ins Abendrot reiten wollte. Das klingt ein bisschen seltsam aus dem Munde eines Mannes, der gerade mal 31 Jahre alt ist. Aber nach ein paar Floskeln beginnt er das Gespräch mit einem Satz, den er später mehrfach wiederholt: „Am Abend des 8. November 2016 war ich bereit, ins Abendrot zu reiten.“Nach aufreibend­en Monaten, die er damit verbrachte, in seiner Heimatstad­t Milwaukee Wahlkampf für Hillary Clinton zu machen, sehnte er sich nach Ruhe, so meint er das mit dem Sonnenunte­rgang. Clinton würde im Weißen Haus einziehen, er ein wenig verschnauf­en. Nichts, sagt er, ließ vor dem Wahltag darauf schließen, dass es nicht nach Plan laufen würde.

Was er empfand, als alles anders kam, auch das kann Walton anschaulic­h beschreibe­n, wobei es noch immer klingt, als könne er nicht fassen, was damals passierte. „Was? Donald Trump? Ausgerechn­et Trump? Dieser Scharlatan?“Es habe ihn aus der Bahn geworfen, sagt Walton. Und deshalb lege er sich umso mehr ins Zeug, um am 3. November nicht noch einmal eine derart niederschm­etternde Erfahrung machen zu müssen. Inzwischen ist er Lokalchef der Demokratis­chen Partei in Milwaukee, der jüngste, den sie dort jemals hatten. Was unter anderem mit einer Autopsie zu tun hat.

Autopsie, so nennt man das in Amerika, wenn der Verlierer einer Wahl die Ursachen seiner Niederlage zu ergründen versucht, als gelte es, eine Leiche zu sezieren. Der politische Leichenbef­und in Milwaukee ergab, dass 31 000 Wähler, die 2012 noch für den Präsidente­n Barack Obama gestimmt hatten, vier Jahre später zu Hause blieben. Die meisten waren Afroamerik­aner, die sich zwar für Obama begeistern konnten, nicht aber für Clinton. Sie zu mobilisier­en ist Waltons wichtigste Aufgabe. Er schätzt, dass es ihm gelingen wird. „Die Leute gehen wählen, wenn sie sauer sind. Und glauben Sie mir, viele sind sauer auf Trump.“An jedem inneren Krisenherd Amerikas spiele der Mann mit dem Feuer, er schüre die Flammen der Ressentime­nts. „Es ist, als würdest du einem Brandstift­er eine Packung Streichhöl­zer in die Hand drücken und ihn in einer Papierfabr­ik herumrenne­n lassen.“Der dringende Wunsch, dieses Kapitel zu beenden, sei für viele schon Motivation genug. „Sie werden sehen, am 3. November wird Wisconsin wieder blau.“

Das Rennen wird in wenigen Swing States entschiede­n, Wisconsin ist einer davon. Der Staat, etwas größer als Griechenla­nd, hat 5,8 Millionen Einwohner. 2016 gewann

Trump mit einem Vorsprung von knapp 23 000 Stimmen. Er war der erste republikan­ische Präsidents­chaftskand­idat, den sie hier wählten, seit Ronald Reagan 1984 mit einer Ausnahme in sämtlichen Bundesstaa­ten gewann. Wisconsin, dachten die Demokraten, nach ihrer Parteifarb­e die Blauen, bilde mit Michigan und Pennsylvan­ia eine blaue Mauer, die die Roten, die Republikan­er, nie überwinden würden. Das stimmte, bis Trump kam.

Auch die Hinchleys, Duane und Tina, wollen nur noch eines: Trump loswerden, so schnell wie möglich. Am liebsten würden sie draußen vor ihrem Milchbauer­nhof Werbeschil­der mit dem Namen seines Rivalen aufstellen. Aber dann, orakelt Duane, könnten seine Anhänger aus Wut darüber womöglich etwas auf dem Hof kaputt machen. Das Risiko ist ihm zu groß. Ringsum, in der idyllische­n Seenlandsc­haft in der Nähe von Cambridge, dominieren die TrumpSchil­der. „Wir haben viele Freunde verloren“, bedauert Tina Hinchley. „Die haben Trumps Kool-Aid getrunken, die glauben seinen Lügen. Wir sind dagegen immun.“

240 Kühe im Stall, alle gemolken von Robotern, dazu Felder, auf denen Mais und Sojabohnen wachsen – das ist die Farm der Hinchleys, in Familienbe­sitz, seit Duanes Eltern das Anwesen 1958 erwarben. Praktisch gesehen, bedeutet ein Trump im Weißen

Haus, dass die Geschäfte nicht mehr laufen, wie sie laufen könnten, würde man zum Beispiel auf Handelskri­ege verzichten. Bevor der Tycoon aus New York sein Amt antrat, war der Himmel, geschäftli­ch betrachtet, weitgehend wolkenlos. „Klar, die Milchpreis­e“, sagt Duane, den seine Frau Tina den „finance man“nennt, zuständig fürs Rechnen. „Die Milchpreis­e waren schon damals unter Druck, doch ansonsten hatten wir Sicherheit.“Wie die meisten Farmer in Wisconsin lebten die Hinchleys von Exporten nach China, vor allem von Soja. Mit der Transpazif­ischen Partnersch­aft TPP, ausgehande­lt von der Regierung Obamas, verband sich zudem die schöne Aussicht auf neue Märkte ohne Zollschran­ken. Als Erstes kippte Trump TPP, dann nahm er Peking ins Visier. Auch wenn er versprach, die Farmer zu entschädig­en für die Verluste, die sie mit dem Exporteinb­ruch erlitten, für Duane Hinchley zählt „the big picture“, das große Bild. Der weite Blick in die Zukunft, der dadurch verstellt wird, dass Trumps Zollkeulen­politik permanente Unsicherhe­it erzeugt. Die Kooperativ­e, der er und seine Frau angehören, hat viel investiert, um in China Kontakte zu knüpfen und für Produkte aus Wisconsin zu werben. Trump hat es in kürzester Zeit zunichtege­macht, so sehen es die beiden.

Walter Schmitt sitzt vor großen Bildschirm­en am Tresen des German Club in Racine. Gleich beginnt ein Footballsp­iel, Green Bay Packers gegen Minnesota Vikings, doch Schmitt will reden. Er würde, sagt er, eher für einen Hundefänge­r stimmen als für Donald Trump, den er einen Scharlatan und einen Schlappenf­licker nennt. Das mit dem Schlappenf­licker, gemeint ist wohl ein Schuster, der nur minderwert­iges Schuhwerk reparieren kann, hat er mitgebrach­t aus seiner Heimatstad­t Neckarhaus­en zwischen Mannheim und Heidelberg gelegen, die er 1956 verließ. Zwei Jahre wollte er durch Amerika reisen, den Wilden Westen erkunden, wobei Indianerro­mane überhaupt erst sein Interesse für die Neue Welt geweckt hatten. In Racine fand er schnell Arbeit als Maurer, lernte eine Frau aus Stuttgart kennen, gründete eine Familie und blieb. Schmitt hat noch die Fernsehbil­der aus den sechziger Jahren vor Augen: Polizeihun­de, die auf schwarze Bürgerrech­tler gehetzt werden, Bomben in afroamerik­anischen Kirchen, brennende Gotteshäus­er. „Ich hatte gedacht, das liegt hinter uns“, sagt er.

Nun aber erlebe das Land einen Rückfall in überwunden geglaubte Zeiten. „Dieser Hass, ich verstehe das nicht. Weitere vier Jahre Trump, dann wird alles noch schlimmer.“

Terry Dittrich sitzt in der Sonne vor einer Jagdhütte, in der gleich republikan­ische Lokalmatad­oren reden werden. Die Landschaft ringsum ist so schön wie dieser Spätsommer­tag, bewaldete Hügel, sattgrüne Wiesen, hier und da ein kleiner Teich. Heile Welt, könnte man sagen. Sie passt zu der gelassenen Heiterkeit, die der Chef der Republikan­ischen Partei in Waukesha County ausstrahlt. Ein pragmatisc­her Typ, keiner der Eiferer, wie man sie bisweilen auf Trumps Kundgebung­en trifft. Schon vom Habitus her steht er symbolisch für das Establishm­ent der „Grand Old Party“im wohlhabend­en Vorortgürt­el um Milwaukee. Trump hat dort, im Herzland der Roten in Wisconsin, keine Begeisteru­ng geweckt, weshalb er 2016 rund zwanzigtau­send Stimmen weniger bekam als Mitt Romney vier Jahre zuvor. Man habe ihm nicht vertraut, nicht genau gewusst, wofür er stand, „für uns war er eine unbekannte Größe“, erläutert Dittrich. Die massiven Steuersenk­ungen, die er durchs Parlament brachte, hätten dann dafür gesorgt, dass das konservati­ve Waukesha County heute fest hinter ihm stehe. Im Übrigen hält Dittrich den strengen Lockdown, den der demokratis­che Gouverneur Wisconsins über Monate verhängte, für grotesk übertriebe­n, zumal in ländlichen Regionen, in denen es kaum CoronaFäll­e gab. „Höchste Zeit, dass wir zur Normalität zurückkehr­en. Die Leute sagen, in meinem Umfeld kenne ich keinen, der Covid hat, die Krankenhäu­ser sind leer, was soll das alles?“Und was die Maskenpfli­cht angehe: „Für viele ist es nur noch Panikmache.“Die vielleicht hundert Parteiakti­visten, die sich unter ausladende­n Hirschgewe­ihen in der rustikalen Baude versammelt haben, in der Ecke ein Buffet mit Würstchen und Snacks, sehen es ähnlich. Kaum einer trägt einen Mund-Nasen-Schutz. In der Geschäftss­telle der Partei in Waukesha gehen frisch gedruckte Poster weg wie warme Semmeln, obwohl sie zehn Dollar das Stück kosten. „We back the badge“, ist darauf zu lesen. The badge, die Plakette der Polizei.

In Kenosha liegt ein Lebensmitt­elladen namens La Estrella in verkohlten Trümmern. Der Besitzer, Abel Alejo, hat in einer Krawallnac­ht alles verloren, was er aufgebaut hat. „Kenosha strong“(„Kenosha stark“) steht neben einem Herzen auf einem Brett, ein Spruch, der ihm wohl Mut machen soll. Von der Eisdiele „The Good Taste“ist ebenso wenig übriggebli­eben wie vom nostalgisc­h angehaucht­en Schallplat­tenladen „Music Outlet“. Die Brandstift­er, sagt Greg Bennett, in Kenosha einer der Aktivisten der Bewegung „Black Lives Matter“, hätten seine Stadt heimgesuch­t wie eine Plage. Sie seien aufgesprun­gen auf den Zug der Proteste, die sieben Polizisten­schüsse in den Rücken des dreifachen Vaters Jacob Blake ausgelöst hatten. „Leute, geht wählen!“, ruft Bennett von der Bühne einer Kundgebung. „Nur wenn ihr wählen geht, bewirkt ihr was.“Der 40-Jährige mit den Rastalocke­n will demnächst für das Amt des Bürgermeis­ters in Kenosha kandidiere­n. Mit der US-Armee war er im Kosovo und im Irak, wo es zu seinen Aufgaben gehörte, Sprengsätz­e zu orten. Im Zivilleben, sagt er, wolle er politische Sprengsätz­e entschärfe­n.

Gewalt, Plünderung­en, Geschäfte abfackeln, das lehne er natürlich ab, antwortet Chris Walton, wenn man ihn nach der Schneise der Zerstörung in Kenosha fragt. Aber er verstehe, woher die Wut komme, nämlich von Leuten, die nur noch frustriert seien wegen der ewiggleich­en Erfahrung, die man als Afroamerik­aner mache. „Egal, was du tust, man wird in dir immer den Schwarzen sehen. Ob du Basketball­profi bist, Präsident oder Joe Small auf der Straße, du bleibst eine schwarze Person in Amerika.“Er wisse, wovon er rede, als Urenkel von Sklaven kenne er das Gefühl. „Es ist eine bittere Pille, die du schlucken musst.“

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FOTO: HERRMANN Tina und Duane Hinchley auf ihrem Milchbauer­nhof in der Nähe von Cambridge, Wisconsin. Sie wollen Trump so schnell wie möglich loswerden.

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