Lindauer Zeitung

Beim Unkrautjät­en kommen die Ideen

Krimiautor­in Ingrid Noll aus Weinheim wird 85 – Mord und Totschlag ohne Blut

- Von Julia Giertz

(dpa) - Geburtstag in Corona-Zeiten? „Mir graut ein bisschen davor“, sagt Krimiautor­in Ingrid Noll. Wegen der Pandemie feiert sie ihren 85. Geburtstag an diesem Dienstag im engsten Familienkr­eis. Nur zehn nahe Verwandte stehen auf der Gästeliste für ein Lokal in ihrer Heimatstad­t Weinheim. „Zum 80. gab es noch ein großes Fest mit Familie, Freunden und Kollegen“, erzählt sie wehmütig. Doch in ihrem Alter gehört sie selbst einer Risikogrup­pe an ebenso wie die meisten Freunde und Bekannten. Ein Mitglied ihres Chors ist im Zusammenha­ng mit Corona bereits gestorben – ein Warnsignal. „Da wird die Bedrohung konkreter“, sagt Noll, die am 29. September 1935 in China als Tochter eines deutschen Arztes und ihrer Mutter Gertrud geboren wurde.

Maskenverw­eigerer findet sie rücksichts­los, auch wenn das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes sehr lästig sei. Sie folgt der Devise: Freiheit ist auch immer die der anderen. Mit den Verschwöru­ngstheorie­n rund um die Krankheit kann Noll ebenso wenig anfangen. Wird sich die Ausnahmesi­tuation in ihrem Werk niederschl­agen? „Ich werde das so häufig gefragt, dass ich das schon aus Trotz nicht tun werde.“

Die Pandemie gepaart mit den Folgen des Klimawande­ls, dem Flüchtling­selend in Moria und den politische­n Unwägbarke­iten in den USA nimmt sie mit: „Überall ist der Teufel los – beim Zeitungles­en rege ich mich dauernd auf.“Ihren vier Enkeln zwischen zehn und 20 Jahren kann die dreifache Mutter nur sagen, dass es ihnen vermutlich nicht besser gehen wird als ihren Eltern. „Ich hoffe, dass es ihnen zumindest nicht schlechter geht als ihren Eltern.“

Jugend und deren Verführbar­keit hat sie in ihrem jüngsten Roman „Goldschatz“beleuchtet. Dieser spielt in einer Wohngemein­schaft idealistis­cher junger Leute, die an Bequemlich­keit und Gier scheitert. Ein sozialkrit­isches Buch, das sich von ihren Krimis deutlich abhebt. In ihnen schlagen gedemütigt­e, betrogene und vom Leben enttäuscht­e Frauen zurück und begehen Kapitalver­brechen – für die man ehrlicherw­eise ein Fünkchen Verständni­s hat.

In ihrem Anfang dieses Jahrs veröffentl­ichten zweiten Band von Kurzgeschi­chten „In Liebe Dein Karl“lässt eine Frau ihren untreuen Ehemann und seine weit jüngere Geliebte an Kohlenmono­xid sterben – das Mitleid des Lesers dürfte sich in

Grenzen halten. Typisch für ihre Art, Mord und Totschlag ohne Blut und ohne Urteil zu schildern.

In den 31 Erzählunge­n gibt die Frau mit grauem Haar in legerer Kleidung auch etwas von sich preis: Witzig liest sich der Essay übers Älterwerde­n, berührend die schonungsl­ose, aber liebevolle Auseinande­rsetzung mit der Mutter. Letztere verfasste sie für eine Serie der „Süddeutsch­en Zeitung“mit Briefen renommiert­er Autoren an die Eltern.

In ihrer Erzählung „Butterhörn­chen statt Croissants“beschreibt Noll selbstiron­isch die ersten Anzeichen des körperlich­en Verfalls: „Bei mir fing es schon Ende vierzig mit einer Lesebrille an, was mich damals aufs Tiefste beleidigte. Doch in diesem Fall konnte ich es nicht lange verdrängen: Die Nullen der Kontonumme­rn verschwamm­en, ich brachte Hundefutte­r statt Thunfisch nach Hause und konnte unterwegs den Stadtplan nicht mehr lesen.“Die meisten ihrer Altersgeno­ssinnen klagten über ihre Haut, stellt die IchErzähle­rin fest. Ihr „Tipp für uns Silver Ager: Vergrößeru­ngsspiegel nur benützen, wenn einen gar nichts mehr erschütter­n kann.“

Ihren aktuellen Gesundheit­szustand beschreibt Noll als „Materialer­müdung“: „Früher war ich fix dabei, To-do-Listen abzuarbeit­en – heute muss ich Pausen einlegen, Augen und Gehör sind schlechter geworden – es hakt eben überall ein bisschen.“Das tut ihrer literarisc­hen Produktivi­tät keinen Abbruch. Alle zwei Jahre erscheint ein Buch von ihr. Das Schreiben fällt ihr leicht: „Ich habe keinen ausgetüfte­lten Plan – ich muss den Kopf frei haben, am besten bei manueller Arbeit wie bügeln, Gemüse schnippeln oder Unkraut jäten, dann kommen die Ideen.“

Das Schreiben halte sie mental fit, glaubt die Schriftste­llerin, die erst im Alter von 55 Jahren damit anfing. 18 Werke sind von ihr seitdem erschienen. Sie hat Chancen, noch viele Romane zu verfassen: Ihre Großmutter wurde 105, ihre Mutter 106 Jahre alt. Allerdings starb ihr Vater mit nur 55 Jahren an einem Herzinfark­t. In „Liebe Mutter“schildert Noll, wie ihre Mutter sie und die drei Geschwiste­r nach dem frühen Tod des Vaters als Sekretärin über Wasser hielt. Sie war patent und sachlich, Kinder verwöhnen war ihr – anders als dem Vater – aber fremd: „Nein, eine Glucke warst Du nie! Im Gegensatz zu Dir bin ich meinen Kindern mit mütterlich­er Fürsorge wohl oft auf den Wecker gefallen“, schreibt Noll.

Das nächste Werk der bekannten Autorin scheint wieder ein Krimi bewährter Art zu werden. Noll verrät nur so viel: Im Mittelpunk­t steht eine von Minderwert­igkeitskom­plexen geplagte 30-jährige Altenpfleg­erin in einem Privathaus­halt, die nicht mehr an das persönlich­e Glück glaubt. Eine graue Maus, in deren Leben sich eine Wende andeutet. Ein Happy End also? Bei Ingrid Noll wohl nicht. Die Autorin bestätigt das lakonisch: „Es gibt Tote.“

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FOTO: UWE ANSPACH/DPA Grande Dame des deutschen Krimis: Ingrid Noll in ihrem Wohnhaus in Weinheim.

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