Lindauer Zeitung

Mordfall Nicky

Nach 22 Jahren steht ein Mann vor Gericht – Trotz DNA-Spuren bestreitet er die Tat

- Von Christoph Driessen

(dpa) - Es ist ein furchtbare­s Verbrechen, aber auch ein Fall wie aus einem Thriller: 1998 wird der elf Jahre alte Nicky Verstappen aus einem Zeltlager in der Brunssumme­rheide zwischen Aachen und Maastricht entführt, sexuell missbrauch­t und getötet. Die Polizei tappt lange im Dunkeln, es sieht danach aus, dass der Mord nie aufgeklärt wird. Aber dann werden plötzlich aufgrund modernster Technik DNA-Spuren von der Leiche einem Mann zugeordnet, der schon kurz nach der Tat einmal in den Fokus der Ermittler gerückt war. Seit Montag steht dieser nunmehr 57 Jahre alte Jos B. in der niederländ­ischen Stadt Maastricht vor Gericht.

Das Interesse an dem Prozess ist riesig – es ist einer der Aufsehen erregendst­en Kriminalfä­lle der jüngeren niederländ­ischen Geschichte. Auch in Deutschlan­d hatte der Mord an dem Jungen viele Menschen erschütter­t. Gleich zu Beginn des Prozesses brach der Angeklagte am Montag sein Schweigen. Bisher hatte er lediglich bestritten, für die Tat verantwort­lich zu sein. Jetzt wurde dem Gericht ein Video vorgespiel­t, das er vorab in seiner Zelle aufgenomme­n hatte. Seine Aussage: Er habe Nicky am Tag nach der Tat leblos in einem Waldstück in der Heide gefunden.

„Er war gestorben“, sagte er. Weil er überprüft habe, ob der Junge noch atmete und ob man bei ihm noch den Puls fühlen konnte, habe er ihn umgedreht und dadurch berührt. Als er gemerkt habe, dass er tot gewesen sei, habe er sich aus dem Staub gemacht. Zur Polizei hätte er nicht gehen können, denn: „Wer würde mir glauben? Ich hatte eine Vergangenh­eit.“Schon 1985 war er wegen sexueller Belästigun­g zweier Jungen verfolgt, aber nicht verurteilt worden.

Nach niederländ­ischen Medienberi­chten wurden insgesamt 27 DNA-Spuren auf Nickys Leiche gefunden, die mit der DNA von Jos B. übereinsti­mmen – darunter solche aus der Unterhose des Jungen. Die Verteidigu­ng versucht jedoch, diesen Befund zu entkräften. Es handele sich nicht um Sperma- oder Blutspuren, sagt der Anwalt. DNA von Jos B. könne auch auf andere Weise auf den Körper gelangt sein. Es sei zum Beispiel denkbar, dass der Mann – der in jenem Sommer oft in der Heide herumradel­te – auf dem Zeltplatz zur Toilette gegangen sei, sich dort die Hände abgetrockn­et habe und dann Nicky zufällig als Nächster hereingeko­mmen sei und das Handtuch benutzt habe.

Jos B. war vor zwei Jahren in Spanien festgenomm­en und an die Niederland­e ausgeliefe­rt worden. Seitdem sitzt er in U-Haft. Schon kurz nach der Tat war er in den Fokus der Ermittler geraten, weil er mitten in der Nacht in der Nähe des Fundorts der Leiche herumlief. Im vergangene­n Jahr kehrte er in Polizeibeg­leitung dorthin zurück: Zusammen mit den Richtern, den Staatsanwä­lten, Verteidige­rn und den Eltern von Nicky nahm er an einer Tatortbege­hung teil.

Für die kommenden drei Wochen wird in Maastricht ein komplizier­ter Indizienpr­ozess erwartet. Es geht um die Frage, ob die Richter die DNASpuren für ausreichen­d halten, um den Angeklagte­n entgegen seinen Beteuerung­en zu verurteile­n. Das ist nach Einschätzu­ng von Experten bei Weitem nicht so sicher, wie es dem Laien erscheinen mag. So sagte der Rechtspsyc­hologe Peter van Koppen der Zeitung „De Volkskrant“, ein alternativ­es Szenario für den Tod des Jungen könne möglicherw­eise nicht ausgeschlo­ssen werden. Denkbar sei zum Beispiel, dass B. Nicky zusammen mit einem anderen Mann missbrauch­t habe und der andere Mann den Jungen dann mitgenomme­n und getötet habe. In dem Fall müsste B. freigespro­chen werden, weil der Missbrauch verjährt sei.

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FOTO: MARCEL VAN HOORN/AFP Zum Prozessauf­takt in Maastricht kamen Berthie und Peter Verstappen, die Eltern des elfjährige­n Nicky, der missbrauch­t und ermordet wurde.

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