„Verstehen ist immer besser als verbieten“
Die Oberallgäuer Medienexpertin Doris Sippel erklärt, wie Eltern das digitale Leben ihrer Kinder managen
- Während des Corona-Lockdowns ging ohne digitale Medien gar nichts mehr. Schüler verbrachten Stunden am Laptop oder Tablet, um zu lernen und sich mit ihren Freunden auszutauschen. Daran sind sie jetzt gewöhnt – und viele Eltern haben ihre liebe Not damit, die Online-Zeit ihrer Kinder wieder einzuschränken. Sibylle Mettler sprach darüber mit Doris Sippel. Die studierte Medienpädagogin und Lehrerin leitet das Medienzentrum Oberallgäu.
Wie bringt man ein Kind dazu, jetzt die Mediennutzung wieder einzuschränken?
Sippel: Der veränderte Alltag mit den erhöhten Bildschirmzeiten war eine Herausforderung. Dabei ist wichtig, zwischen Freizeit- und Lern- beziehungsweise Arbeitszeiten zu unterscheiden. Nach der zurzeit möglichen Rückkehr in eine Schul- und Freitzeitnormalität mit Sozialkontakten und Vereinsleben hat sich der Medienkonsum der meisten Schüler wieder eingependelt. Falls Eltern die Nutzungszeit zu hoch erscheint, gibt es die Möglichkeit, mit dem Kind einen gemeinsamen Mediennutzungsvertrag abzuschließen.
Wie viel Bildschirmzeit mit Handy, Computer und Fernsehen pro Tag sollten Eltern erlauben?
Sippel: Eine pauschale Antwort ist schwierig, da es sehr individuell auf das Kind ankommt. Der Medienratgeber für Familien „Schau hin“empfiehlt Richtwerte zur Orientierung. Dabei sollen Kinder unter drei Jahren so wenig Bildschirmzeit wie möglich haben, bis zu fünf Jahren bis zu einer halben Stunde am Tag, Kinder
zwischen sechs und neun Jahren bis zu einer Stunde täglich. Bei älteren Kindern ab zehn Jahren empfiehlt es sich, ein wöchentliches Zeitkontingent zu vereinbaren. Kinder und Jugendliche können so ihre eigenen Erfahrungen machen. Eine weitere Orientierung bietet folgende Faustregel: zehn Minuten Medienzeit pro Lebensjahr am Tag oder eine Stunde pro Lebensjahr in der Woche. Wichtig ist, dass diese Nutzungszeiten auch eingehalten werden. Neben einer zeitlichen Limitierung gibt es auch die Möglichkeit einer inhaltlichen Beschränkung, zum Beispiel eine Folge der Lieblingsserie, die 20 Minuten dauert, oder eine Runde des Lieblingsspiels, für die man 30 Minuten braucht.
Covid-19 hat zahlreichen Schülern eigene Computer beschert. Viele Familien mussten während des Lockdowns digital nachrüsten, damit ihre Kinder die Hausaufgaben erledigen konnten. Jetzt stehen diese Geräte auf den Schreibtischen in den Kinderzimmern. Ist das aus medienpädagogischer Sicht in Ordnung?
Sippel: Der Gerätebesitz ist nicht allein gleichzusetzen mit einem zu hohen Medienkonsum. Ich finde es sinnvoll, wenn Kinder die digitale Welt nicht nur in der Freizeit kennenlernen, sondern auch einüben, darin zu lernen, zu arbeiten und kreativ zu sein. Der Blick auf Medienzeiten und ihre Regulierung entschärft sich, wenn im Tagesablauf genügend Abwechslung, Bewegungsmöglichkeiten und entspannende Aktivitäten zur Verfügung stehen.
Digitales und analoges Leben vermischen sich immer mehr. Wenn das Smartphone zum Musik hören benutzt wird, gibt es nichts einzuwenden. Für Referate im Internet zu recherchieren, muss sogar sein. Die Nutzung von Spielen oder Apps wie Tik Tok oder Snapchat sollte man aber begrenzen. Wie soll das in der Praxis funktionieren, wo man doch für alles ein und dasselbe Gerät benötigt?
Sippel: Es ist oft schwierig für Eltern zu beurteilen, was ihre Kinder am Bildschirm machen. Und doch ist es wichtig, dass sie wissen, wie lange sie in digitalen Games, in sozialen Netzwerken, mit Serienschauen oder der Bearbeitung der Schulaufgaben verbringen. Das ist möglich, wenn man in einem gemeinsamen Austausch steht, wenn man mal mitspielt oder sich ein neu erstelltes Video zeigen lässt. So können sich Eltern mit ihren Kindern auch über problematische Inhalte, Suchtpotentiale und eine zeitliche Einschränkung annähern. Verstehen ist immer besser als Verbieten! Ferner wäre es schön, wenn den Kindern und Jugendlichen zum schulischen Gebrauch ein Tablet oder PC/Laptop zur Verfügung stünde. Im Moment werden die Schulen dazu über die digitalen Förderprogramme mit Leihgeräten ausgestattet.
Wie sollen Kinder damit umgehen, wenn in ihren Klassen-Gruppen täglich Hunderte von Nachrichten ankommen? Wer aus der digitalen Gruppe austritt, bekommt die Gespräche der anderen nicht mehr mit und wird zum Außenseiter. Aber 139 Sprachnachrichten innerhalb von sechs Stunden oder 23 mal Handy-Gepiepe, weil jemand „gute Besserung auch von mir“schreibt – das nervt. Also, was tun?
Sippel: Diese Probleme in Klassengruppen sind immer auch Thema in der Schule oder in den jeweiligen Gruppen. Wichtig ist, dass Regeln erarbeitet oder aufgestellt werden: Kein unnötigen Inhalte, Uhrzeiten einhalten, keine Beleidigungen, wertschätzende Ausdrucksweise, Bildrechte beachten ... Innerhalb einer Gruppe können Admins gewählt werden: Diese kümmern sich darum, dass die Regeln eingehalten werden und dass niemand ausgeschlossen wird, beziehungsweise die Schüler über wichtige Ereignisse informiert werden, die den entsprechenden Messenger nicht haben.