„Mehr erklären statt belehren“
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zu den Aufgaben der Politik in der Corona-Krise – und zu den Herausforderungen für die Union im Wahljahr 2021
- Seine Zukunftspläne sind derzeit bundesweit ein Thema: Könnte CSU-Chef Markus Söder Kanzlerkandidat der Union werden? Wenn es nach den Umfragen ginge, wäre diese Frage bereits entschieden. Rund 43 Prozent der Befragten sprachen sich in einer aktuellen Civey-Umfrage für den bayerischen Ministerpräsidenten aus. Doch der gibt sich zurückhaltend: „Ich bin weit davon entfernt, nur auf Umfragen zu vertrauen“, sagt er im Interview mit Hendrik Groth und Claudia Kling. Sie haben mit dem CSU-Chef über Politik in Zeiten von Corona und das kommende Wahljahr gesprochen.
Herr Söder, Sie haben am Wochenende beim CSU-Parteitag aus Hassbriefen vorgelesen, die Sie inzwischen gehäuft erreichen. Was hat Sie dazu bewogen?
Ich wollte zeigen, welche Dimensionen und welche Formen die Kritik mittlerweile angenommen hat. In meinen zwei Jahren als Ministerpräsident gab es immer wieder mal Drohungen. Aber das, was mich inzwischen erreicht, hat eine ganz neue Qualität. Der Ton ist sehr viel aggressiver geworden. Ich mache dies auch deshalb öffentlich, um jenen, die nur skeptisch sind, zu zeigen, wie sich manche verirrt haben. Diese Menschen sind so verstrickt in ein Netzwerk von Irrungen und Fake News, dass sie daraus kaum mehr herausfinden.
Warum schaffen es solche Schreiben überhaupt auf Ihren Schreibtisch? Sie haben doch Mitarbeiter, die diese rausfischen könnten.
Natürlich, aber die Briefe, die direkt an mich adressiert sind, kommen nach einer Sicherheitsprüfung auch auf meinen Schreibtisch. Bei diesen Drohbriefen geht es auch darum, sich einen Überblick zu verschaffen, welche Hetze im Umlauf ist. Man sieht auch, wes Geistes Kind die Absender sind – Antisemiten, Rechtsextreme und Fanatiker. In einer Demokratie gibt es natürlich ein Recht auf Skepsis und auch die Freiheit, Unsinn zu reden. Aber die Grenze ist erreicht, wenn Persönlichkeitsrechte und Leib und Leben anderer Menschen in Gefahr sind.
Im vergangenen Jahr wurde der Politiker Walter Lübcke ermordet. Die Nachrichten über rechtsextreme Netzwerke häufen sich. Wie gehen Sie damit um?
Die Bekämpfung des Rechtsextremismus steht ganz oben auf unserer politischen Agenda. Wir erleben seit einigen Jahren, wie sich das politische Klima verändert hat. Rechtsextremistische Angriffe sind nicht Einzeltaten isolierter Verrückter, sondern dahinter steht oft ein breites Netzwerk geistiger Brandstifter. Deshalb liegt die Verantwortung auch nicht nur bei denjenigen, die eine Tat ausführen, sondern auch bei denen, die sie geistig vorbereiten.
Wie reagieren Sie darauf, wenn Ihnen jemand Todesdrohungen schickt?
In den harmloseren Fällen nehmen wir die Briefe einfach zur Kenntnis. Bei Tötungsandrohungen wird von Amts wegen ermittelt. Als Ministerpräsident habe ich das Schutzversprechen gegeben, alle Menschen vor Extremisten zu beschützen. Das gilt auch und gerade für Minderheiten. Menschen mit Migrationshintergrund und jüdische Gemeinden können sich auf diese Schutzgarantie gegenüber Rassismus und Antisemitismus verlassen. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für gleichgeschlechtliche Gemeinschaften und deren Schutz vor Ausgrenzung.
Sie haben am Samstag einer Tasse mit einem Aufdruck aus der „Games of Thrones“-Serie zu einer gewissen Berühmtheit verholfen. Aus dem Schriftzug „Winter is coming“wurde „Winter is here“, als Sie sich Tee eingeschenkt haben. Entspricht das Ihrer Stimmungslage und Ihrem Blick auf das Corona-Geschehen?
Ja, ein wenig. In den vergangenen sieben Monaten hat sich fast jede unserer Prognosen bestätigt. Am Anfang haben wir vor der Einschleppung des Virus aus Italien und Österreich gewarnt, dann vor Infektionen bei Urlaubsreisen im Ausland, dann vor Leichtsinn bei Partys – und jetzt erleben wir leider gerade, dass Geburtstagsfeiern, Hochzeitsfeiern und Partys das
Unter dem gläsernen Dach der Staatskanzlei in München: CSU-Chef Markus Söder im Interview mit Claudia Kling und Hendrik Groth. Bei dem Gespräch waren auch Anton Preis, stellvertretender Pressesprecher der Staatsregierung, und Simon Rehak, Pressesprecher der CSU, dabei. größte Risiko sind. Rund um Deutschland explodieren die Infektionszahlen. Warum sollte das an uns vorübergehen? Wenn es so weitergeht wie jetzt, dann werden wir, das hat auch die Kanzlerin gesagt, an Weihnachten möglicherweise bis zu 20 000 Infektionen pro Tag haben. Das hätte gravierende Folgen. Denn Corona ist ein heimtückisches Virus und weiter hochgefährlich.
Ärgern Sie sich über die Menschen, die mit ihrer Unvernunft alle bisherigen Corona-Erfolge zunichtemachen?
Ärgern ist das falsche Wort. Man lernt daraus, dass wir noch besser erklären müssen, wie gefährlich Corona ist. Viele haben nicht verstanden, dass dieses Virus auch für junge Menschen Langzeitfolgen haben kann, die noch nicht absehbar sind. Corona ist gefährlich für die ältere Generation und heimtückisch für alle anderen. Deshalb bleibt es bei der Grundlinie: Wir brauchen eine Koalition der Vernünftigen, die mitmacht. Und wir müssen die Vernünftigen vor den Unvernünftigen schützen. Wenn die Zahlen weiter steigen, müssen auch die Regeln angepasst werden.
Wie sehr behindert der Föderalismus ein einheitliches Vorgehen? Sie haben sich für eine Ampel ausgesprochen, die in ganz Deutschland gleich funktionieren sollte.
Der Föderalismus ermöglicht mitunter schnellere Entscheidungen, aber er zeigt seine Schwäche, wenn dieselbe Gefahr in verschiedenen Bundesländern unterschiedlich eingeschätzt wird. Das Virus macht keinen Unterschied zwischen Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Sachsen oder Nordrhein-Westfalen. Deshalb brauchen wir einen Regelmechanismus, der für alle gilt. Wir können doch den Hilferuf der Kommunen, die sich in der CoronaPandemie alleingelassen fühlen, nicht ungehört verhallen lassen. In Bayern setzen wir auf eine Ampel mit folgenden Vorgaben: Bis zu einer 7-Tages-Inzidenz von 35 pro 100 000 Einwohner gelten die allgemeinen Corona-Regeln mit Abstand, Hygiene und Maskenpflicht da, wo kein Abstand möglich ist. Bei Interview
Zahlen zwischen 35 und 50 gilt unter anderem eine Maskenpflicht auch im Unterricht ab der fünften Klasse, um einen zweiten Lockdown zu vermeiden. Ab dem Wert 50 wird die Maskenpflicht verschärft, und es gibt strengere Auflagen für den Alkoholausschank und Privatfeiern. Wir brauchen ein verbindliches, verlässliches und verhältnismäßiges Regelwerk, das für jeden verständlich und nachvollziehbar ist.
Beim Parteitag haben Sie gesagt, es werde im Herbst keinen zweiten Lockdown geben. Ist das realistisch?
Unser Ziel muss es sein, einen zweiten Lockdown zu verhindern. In einigen Nachbarländern ist es ja schon wieder so weit. Deswegen müssen wir reagieren. Unsere Priorität ist der Erhalt von Arbeitsplätzen und der Regelbetrieb von Schule und Kita. Daher müssen wir weiter vorsichtig und vorausschauend handeln.
Und welche Priorität haben Schulen und Kitas in der Corona-Pandemie? Wird es möglich sein, dass sie in den Wintermonaten geöffnet bleiben?
Das ist ein ganz wichtiges Ziel – für Pädagogen, Eltern und Kinder. Die Kinder müssen zur Schule gehen, damit wir keine „weißen Jahrgänge“, wie man das früher nannte, produzieren, die eine schlechtere Ausbildung haben. Unser Ansatz ist: lieber mit Maske in der Schule als Unterrichtsausfall. Und natürlich müssen wir den Digitalisierungsturbo in den Schulen einlegen. Die Bilanz der vergangenen zehn Jahre ist dazu kläglich in Deutschland. Es braucht WLAN, Lehrerinnen und Lehrer, die sich digital fortbilden können, sowie eine entsprechende Versorgung mit Endgeräten wie Tablets. Bayern schafft dazu fast 400 000 Geräte für Schüler und Lehrkräfte an.
Sehen Sie noch einen ausreichenden gesellschaftlichen Willen, sich gemeinsam gegen Corona zu stemmen? Oder wird der Gesundheitsschutz zunehmend zur individuellen Angelegenheit und zur Frage der richtigen Maske?
Eine Maske zu tragen, ist immer gut, weil es das Ansteckungsrisiko laut ●
Experten bis zu 90 Prozent reduzieren kann. Aber zur eigentlichen Frage: Der überwiegende Teil der Bevölkerung unterstützt unsere Politik. Wir dürfen uns nicht von den lauten Stimmen verunsichern lassen. Aber wir müssen auch unseren Politikstil in den nächsten Monaten verbessern – mehr erklären statt belehren. Wenn uns das gelingt, könnten wir auch manches Vorurteil widerlegen.
Wenn Sie Bilanz ziehen: Wie viel Energie hat Sie die Corona-Pandemie in den vergangenen sechs Monaten gekostet – und welche politischen Vorhaben sind deshalb auf der Strecke geblieben?
Natürlich braucht es dafür Energie. Aber es gibt auch Kraft, wenn man die Rückendeckung der Bevölkerung spürt. Die Menschen inspirieren uns zu umsichtigem Handeln und zu mutigen Entscheidungen. Unzählige Menschen haben sich all die Monate bis heute auch bedankt, das hat mich sehr bewegt.
Und was ist aus Ihren politischen Vorhaben geworden?
Da ist nichts liegen geblieben. Viele Politikfelder bleiben dringlich. Allen voran der Klimawandel, der sich nicht von Corona verdrängen lässt und auch länger bleiben wird als Corona. Das muss eine unserer Top-Prioritäten sein. Und wir brauchen einen technologischen digitalen Sprung. Wir haben uns in den vergangenen zehn Jahren an das hohe Wirtschaftswachstum gewöhnt und sind in Deutschland langsamer geworden, was technische Erneuerungen betrifft. In Bayern starten wir deshalb mit unserer HightechAgenda eine der größten Forschungsoffensiven, die es je gegeben hat. Wir werden im nächsten Jahr auf einen Schlag so viele Professuren neu ausschreiben, wie unsere größte Universität, die LudwigMaximilians-Universität, insgesamt Professoren hat. Damit treiben wir vor allem auch die Künstliche Intelligenz voran.
Sie haben in diesem Zusammenhang beim Parteitag ein Ende für Verbrennungsmotoren mit fossilen Kraftstoffen ab dem Jahr 2035 gefordert. Das hat etwas für Furore gesorgt.
Und dennoch ist der Vorstoß richtig. Wer die Klimaziele erfüllen will, muss klare Strategien und Zeitpläne haben. Die Verdopplung der Prämie für Elektroautos ist ein erster Erfolg in der Umstellung. Daneben brauchen wir sinnvolle Überbrückungshilfen. Dazu gehören Umtauschprämien für modernste Verbrenner. Wenn selbst Winfried Kretschmann dafür wirbt, kann das ja ökologisch nicht verkehrt sein. Prämien für Umtausch und Recycling helfen, bessere und klimafreundliche Autos auf die Straße zu bringen. Auf Dauer können wir dann auf alternative Antriebe wie Elektro, Wasserstoff oder Biosprit umsteigen. Dazu sind 15 Jahre eine angemessene Zeit. Wenn wir nicht 2035 eine letztmalige Zulassung für fossile Verbrenner festschreiben, wie wollen wir dann unsere Klimaziele schaffen?
Wenn Sie solche Forderungen stellen, ist das auch ein Signal an die Grünen?
Ich habe mich bereits als CSUGeneralsekretär mit Ökologie beschäftigt und war dann ja Umweltminister in Bayern. Die Bewahrung der Schöpfung ist eine ethische Frage und kein Thema für taktische Winkelzüge. Es geht um die Zukunft unserer Erde. Ich bin bekanntlich ein Fan von Raumfahrt und Astronomie. Der Blick in die Tiefen des Weltalls, auf Planeten, wo es vor Milliarden von Jahren Wasser, vielleicht sogar Leben gab, bedeutet für mich nichts anderes, als den Spiegel einmal umzudrehen und zu fragen, wie wir mit diesem blauen Planeten umgehen und ob wir die Vielfalt des Lebens erhalten können.
Auf Ihr Ansehen als Politiker hat sich die Corona-Krise durchaus positiv ausgewirkt. In den Umfragen zur Unionskanzlerkandidatur steht Ihr Name ganz vorne. Wie lange werden Sie so tun, als könnten Sie das ignorieren?
Ich nehme das schon wahr, aber es gibt einen klaren Zeitplan. Erst wählt die CDU ihren Parteivorsitzenden. Das wird eine wichtige Entscheidung, weil es nicht nur um eine Person, sondern auch um eine Richtungsfrage geht. Dann werden sich CDU und CSU zusammensetzen und einen Kanzlerkandidaten benennen. Das Vorschlagsrecht liegt bei der CDU, weil sie die größere Partei ist. Allerdings kann keiner Kandidat werden, ohne die Unterstützung der CSU. Zu mir: Mein Platz ist in Bayern. Hatte ich das nicht schon einmal irgendwo gesagt? (Lacht)
Reizt es Sie nicht, der erste Bayer zu sein, dem auch in anderen Bundesländern eine Kanzlerschaft zugetraut wird, und der das dann auch zum Erfolg führt?
Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber, mit die größten CSU-Politiker, die wir hatten, haben es probiert, und sie sind beide gescheitert. Ich bin weit davon entfernt, nur auf Umfragen zu vertrauen. Darin steckt viel Flugsand. Mein Ziel ist es, am gemeinsamen Erfolg, der Geschlossenheit und der Modernität der Union mitzuarbeiten. Unser Hauptwettbewerber bei den Wahlen im nächsten Jahr werden die Grünen sein, das sollten wir im Blick haben. Das sieht man in Baden-Württemberg, wo derzeit ein Kopf-an-KopfRennen im Gang ist. Es wird in jeder Beziehung im kommenden Jahr ein Wimpernschlagfinale geben.
Wie schlimm ist es für die Union, um die Grünen werben zu müssen, wenn sie bei den anstehenden Wahlen überhaupt eine Machtoption haben will?
Wir müssen auf jeden Fall aufpassen, dass wir nicht in eine strategische Falle tappen. Denn die Grünen sind ja denkbare Koalitionspartner, weil die SPD unter keinen Umständen mit der Union weiterarbeiten will. Stattdessen strebt sie ein rein linkes Bündnis an. Bei der FDP bin ich leider skeptisch. Ich schätze Christian Lindner persönlich, aber wenn man dann manche Verschwörungstheorie hochrangiger FDP-Politiker liest, merkt man, wie orientierungslos diese Partei zu sein scheint. Schade.
Vermissen Sie die FDP als möglichen Bündnispartner?
Eine verlässliche FDP war immer gut für Deutschland. Aber die Liberalen haben in den vergangenen Jahren vieles falsch entschieden – Jamaika, Thüringen und auch in der Corona-Krise. Wenn Wolfgang Kubicki sagt, dass Corona-Auflagen verfassungswidrig seien, während sie gleichzeitig von den Verfassungsgerichten bestätigt werden, zeigt das ein hohes Maß an Unseriosität. Regierungen müssen aber seriös sein – wir können keine Spaßregierungen gebrauchen. Deshalb sind die Grünen derzeit möglicher Partner, aber gleichzeitig auch Hauptkonkurrent um Platz eins.
Wenn alle Grünen wie BadenWürttembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann wären, wäre die Koalitionswelt dann eine schönere?
Ich schätze Winfried Kretschmann, aber die Mehrheit der GrünenFunktionäre ist nicht so wie er. Anfangs haben wir auch gefremdelt, aber als ich ihn beim Kirchentag länger erlebt habe, hat er mich mit seinem philosophischen Denken beeindruckt. Daneben schätze ich das hohe Maß an Verlässlichkeit, das sich in der Zusammenarbeit zwischen Bayern und Baden-Württemberg entwickelt hat – und auch zwischen uns persönlich.
Sie haben vor Kurzem in einem Interview, als es um Ihre Teststrategie ging, den Freistaat Bayern mit dem FC Bayern verglichen, dem keine Fehler verziehen würden.
Beim Testen passieren überall in Deutschland Fehler, aber wenn etwas in Bayern geschieht, wird das Ganze bundesweit beachtet. Der FC Bayern wird sich in dieser Woche auch wieder einiges anhören müssen, nur weil er mal ein Spiel verloren hat. Aber so ist das nun mal.
Thomas Grethlein, Aufsichtsratschef des 1. FC Nürnberg, dem Sie die Treue halten, sagte: „Das Leben ist kein FC Bayern. Das Leben ist eher wie der Club.“Wie viel Wahres ist an diesem Spruch?
Ich weiß nicht, ob man das Leben so einteilen sollte. Dann wäre es nämlich für die einen eher freudig und für die anderen eher trostlos. Als Club-Fan wird man geboren, das ist sozusagen eine genetische Frage. Als Club-Fan wird man ja nicht oft verwöhnt und freut sich daher über jeden kleinen Erfolg so, wie andere über eine ganze Meisterschaft.