Lindauer Zeitung

Schmerzhaf­te Spurensuch­e

Der Schriftste­ller Michael Kleeberg erforscht in „Glücksritt­er“das Leben seines Vaters – und sein eigenes

- Von Barbara Miller

Warum sind wir so, wie wir sind? Wovon hängt das ab? Von den Genen? Von unseren Erfahrunge­n? In der Pubertät entfernen wir uns von den Eltern, wir beurteilen, oft verurteile­n wir ihre Art zu leben. Und dann stehen die Jungen, die Aufbegehre­nden, die alles anders machen wollten, plötzlich selbst an der Schwelle zum Alter. Und stellen fest, wie viel sie doch internalis­iert haben von dem, wogegen sie einst angerannt sind. Dann kommt das Erschrecke­n.

Der Schriftste­ller Michael Kleeberg hat sich einer solchen durchaus schmerzhaf­ten Selbsterfo­rschung unterworfe­n.

Sein in nüchternem, fast reportageh­aft schnörkell­osem Stil geschriebe­nes Buch „Glücksritt­er“nennt er im Untertitel „Recherche über meinen Vater“. Aber es ist auch eine Recherche über sich selbst.

Und zugleich ein Soziogramm der Bundesrepu­blik und dieser Wirtschaft­swunderjah­re, in denen man begann, den gesellscha­ftlichen Erfolg eines Menschen an den von ihm gefahrenen Autos abzulesen – Ford Taunus 17m, 20m, oder später Citroën GS.

Der Krieg ist gerade mal anderthalb Jahrzehnte vorüber, als Michael Kleeberg in Stuttgart geboren wird. Die Eltern waren im Krieg aufgewachs­en, waren also nicht an der Front, nicht in der Partei. Unschuldig. Und doch wird dem Autor bei der Erkundung der eigenen Familie immer klarer, wie präsent die NSIdeologi­e im Denken, Reden, Handeln und Fühlen der Nachkriegs­gesellscha­ft noch ist. Auch wie es zu diesen damals durchaus noch üblichen, unkontroll­ierten Gewaltausb­rüchen gegenüber den eigenen Kindern kommen konnte. „In gewisser Hinsicht waren vielleicht auch

ANZEIGE die Prügel, die mein Vater mir verabreich­te, eine solche Revanche, des rhetorisch unbeschlag­enen, unartikuli­erten Mannes mit Volksschul­bildung gegen seinen Gymnasiast­enSohn, der (angestache­lt von seiner Mutter) den Vater mit seiner vermeintli­chen Bildungsüb­erlegenhei­t, seiner Rhetorik und seiner Aussicht auf eine höhere soziale Stellung erniedrigt­e und beleidigte.“

Die Erfahrung der Not in der Kindheit hat wohl diesen unbedingte­n Willen zum gesellscha­ftlichen Aufstieg begründet. Für die kleine Familie der Kleebergs bedeutete diese Sucht nach Statussymb­olen und gesellscha­ftlicher Reputation Dauerstres­s. Viele Umzüge, immer den berufliche­n Stationen des Vaters folgend, von Stuttgart nach Friedrichs­hafen, auf die Alb nach Bitz, schließlic­h nach Hamburg. Der Aufstieg war hart erkauft, und oft folgte prompt auch wieder ein Abstieg. Der Vater schob alles aufs Glück. Er hatte halt keins. Auch nicht bei seiner vermeintli­ch letzten großen Chance, die sich als üble Abzocke von Trickbetrü­gern herausstel­lte. So erklärt sich auch der Titel „Glücksritt­er“.

An manchen Stellen geht einem die Schonungsl­osigkeit, mit der Kleeberg die eigene Familie und damit auch sich selbst analysiert, fast zu weit. Auch verliert man gelegentli­ch bei all den Cousinen und Halbschwes­tern der Eltern den Überblick. Und doch wird man als Angehörige­r dieser Generation, die durch die 60er- und 70er-Jahre ihre Prägungen erhalten hat, entdecken, wie sich die Erfahrunge­n und Beobachtun­gen gleichen.

Michael Kleeberg: Glücksritt­er. Recherche über meinen Vater, Galiani Berlin, 233 Seiten, 20 Euro.

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FOTO: VERLAG

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