Wortgewaltige Mahnerin gegen das Vergessen
Zum Tod der Germanistin, Schriftstellerin und Holocaust-Überlebenden Ruth Klüger
(dpa/sz) - In ihrer Festrede im Deutschen Bundestag verneigte sich Ruth Klüger 2016 vor der damals herrschenden Willkommenskultur gegenüber den Flüchtlingen. „Dieses Land, das vor 80 Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war, hat heute den Beifall der Welt gewonnen dank seiner geöffneten Grenzen und der Großzügigkeit, mit der Sie syrische und andere Flüchtlinge aufgenommen haben und noch aufnehmen“, zollte die Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Holocaust-Überlebende den Deutschen ihren Respekt.
Die für ihr erst spät entstandenes Werk mehrfach ausgezeichnete jüdisch-amerikanische Schriftstellerin und wortgewaltige Mahnerin gegen das Vergessen war eine Frau mit großer Ausstrahlung. Im Alter von 88 Jahren ist Klüger nach Angaben des Wiener Zsolnay Verlags in ihrem Heimatort Irvine im US-Bundesstaat Kalifornien in der Nacht zum Dienstag gestorben.
Ruth Klüger wurde 1931 als Tochter eines jüdischen Frauenarztes in Wien geboren. Im September 1942 deportierten sie die Nazis mit ihrer Mutter ins KZ Theresienstadt, dann nach Auschwitz-Birkenau und nach Christianstadt.
Die Gefangenschaft hat sie nach eigenen Worten auch durch die Liebe zur Lyrik überlebt. Als damals zwölfjähriges Kind dichtete sie im Vernichtungslager Auschwitz: „Fressen unsere Leichen Raben? / Müssen wir vernichtet sein? /Sag, wo werd ich einst begraben? / Herr, ich will nur Freiheit haben / und der Heimat Sonnenschein.“Auf einem Todesmarsch gelang ihr mit ihrer Mutter die Flucht.
Nach ihrer Emigration in die USA studierte Klüger Bibliothekswissenschaften und Germanistik, wurde Hochschullehrerin und Literaturkritikerin. Ihre Arbeiten reichen vom Barock bis zur Gegenwart, von Lessing über Kleist und Heine bis zur zeitgenössischen Frauenliteratur. Ruth Klüger war langjährige Herausgeberin der Fachzeitschrift für amerikanische Germanistik „German Quarterly“.
1988 erhielt sie eine Gastprofessur an der Universität Göttingen. Bei einem Verkehrsunfall wurde sie lebensgefährlich verletzt. Dieser Einschnitt bedeutete den Start einer späten literarischen Karriere. Ihre Autobiografie „weiter leben. Eine Jugend“(1992) wurde zum großen Erfolg und in zehn Sprachen übersetzt. Darin schildert sie auf präzise und unsentimentale Art die Schrecken des Nationalsozialismus und ihren Überlebenswillen in den Lagern.
Ihre Haltung zur Schreckensherrschaft im deutschen Namen war eindeutig. „Wir Überlebende sind nicht zuständig für Verzeihung“, sagte Klüger einmal der österreichischen Nachrichtenagentur APA. Und: „Ich halte Ressentiment für ein angebrachtes Gefühl für Unrecht, das nicht wiedergutzumachen ist.“
Mit Martin Walser verband Ruth Klüger eine enge Freundschaft – bis zum Erscheinen seines Buches „Tod eines Kritikers“. Walser sei für sie der „Inbegriff des germanischen Nachkriegsintellektuellen“, sagte sie in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Und fügte hinzu: „Ich kann nicht beurteilen, ob Walser Antisemit ist. Er weiß es vielleicht selber nicht.“Dieses Buch jedoch sei bösartig und antisemitisch – und die Freundschaft seither beendet, „rettungslos und auf immer“.
Zu den bekanntesten Werken Klügers zählen „Frauen lesen anders“(1996), „Katastrophen. Über deutsche Literatur“(1997) und „Was Frauen schreiben“(2010). Unter dem Titel „Zerreißproben“(2013) versammelte sie ihre seit 1944 entstandenen Gedichte. Zuletzt erschien 2018 im Zsolnay Verlag „Gegenwind. Gedichte und Interpretationen“.
Klüger lebte abwechselnd in Irvine im US-Bundesstaat Kalifornien und im deutschen Göttingen. Ab und zu fuhr sei sie mit Freunden nach Las Vegas gefahren, um zu spielen, erzählt der Herausgeber ihrer Werke, Zsolnay-Verlagsleiter Herbert Ohrlinger. Klüger habe geplant, à la Dostojewski einen Spieler-Roman zu schreiben. „Es ist so schade, dass sie ihn nicht mehr beenden konnte.“